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yuniya edi kwon:
Koreanisch-queere Kontinuitäten
von Annett Scheffel / Fotos: Nicals Weber für Monheim Triennale
Die Bühne ist in ein sanftes, diffuses Licht getaucht. Ein Raum wie im Übergang zwischen Realität und Geisterwelt. Die Grenzen sind fließend. In der Mitte der Bühne steht eine einzelne Gestalt – yuniya edi kwon. Die Violinistin, Sängerin und interdisziplinäre Performancekünstlerin ist der kraftvolle Mittelpunkt des Solostückes „UMMA-YA”. In einem sanft schwingenden weißen Kleid spielt sie Violine und Viola, singt und tanzt. Alles an dieser Performance ist intuitiv tastend und forschend: die Bewegungen, die immer intensiver werden, die Melodien, die sich aufbäumen, die Stimme, die erst flüsternd beginnt und sich dann zu einem lauten Klagelied aufschwingt. Mal krümmt sich ihr Körper, als würde eine unsichtbare Kraft ihn zusammendrücken, mal streckt sie die Arme weit aus, als wollte sie etwas Unsichtbares umfassen. Und die Violine wird zur Verlängerung ihrer Emotionen – schnarrende, schneidende Klänge wechseln sich mit schwebenden Tönen ab, die an traditionelle Wiegenlieder erinnern.

„UMMA-YA”, das 2021 uraufgeführt wurde, gehört zu den bemerkenswerten Arbeiten der in Brooklyn lebenden Künstlerin yuniya edi kwon. Wie in vielen ihrer Werke vereint die 35-Jährige hier Instrument, Stimme und Körper und schöpft aus der dichten, spirituellen Welt koreanischer und schamanischer Performance-Traditionen und Klangfarben, sowie der amerikanischer Experimentalmusik. Durch diese interdisziplinäre Praxis und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstler:innen und Kulturen verwischt kwon die Grenzen zwischen Musik, Tanz, Theater und Ritual und findet im Rausch der Übergänge ganz neue Ausdrucksformen. Vor allem aber geht es kwon um eine intensive persönliche und universelle Auseinandersetzung mit Themen wie Identität, Transgender-Sichtbarkeit und kulturellen Traditionen.

An einem kalten, klaren Morgen sitzt yuniya edi kwon in ihrem Apartment in Bedford-Stuyvesant, Brooklyn und erzählt im Videointerview mit sanfter, überlegter Stimme von ihrem Instrument, der Violine: „Das ist die längste Beziehung, die ich in meinem Leben hatte“, sagt Kwon. „Seit meinem 14. Lebensjahr habe ich mehr oder weniger jeden Tag mit diesem Objekt an meinem Körper und in meinem Herzen verbracht, und wir beide haben miteinander in Resonanz gestanden. In gewisser Weise bin ich mit diesem Instrument aufgewachsen, es war eine Begleiterin und Partnerin – mehr noch, es war eine Art Erweiterung meines Geistes und meiner Seele.“ Was sie am meisten an der Violine liebt? „Ich liebe, wie kompliziert sie ist und wie viel sie in sich trägt. Ich liebe es, dass es unmöglich ist, die Geige anzusehen und nicht zumindest bis zu einem gewissen Grad Hunderte von Jahren Kultur, Kontext und Geschichte zu sehen oder zu fühlen. Und gleichzeitig ist sie ein Instrument, mit dem man immer wieder Neues entdecken kann.“

Zwei parallele Pfade

yuniya edi kwon fing an Geigenunterricht zu nehmen, als sie zehn Jahre alt war – ursprünglich um es ihrer großen Schwester gleichzutun. Parallel zur klassischen, westeuropäischen Kammer- und Orchestermusikausbildung, spielte kwon damals aber auch in Punkbands. „Ich war ein junges asiatisch-amerikanisches queeres Kind, das im Mittleren Westen aufwuchs. Ich hatte viel Angst und versuchte, meine Erfahrungen zu verstehen und herauszufinden, warum ich mich oft missverstanden fühlte“, sagt sie.

kwon ist koreanische Amerikanerin der zweiten Generation. Ihre Eltern waren in den 80ern nach Minnesota gezogen. „Lange Zeit liefen diese Wege – die energetische Befreiung und Katharsis des Punk und meine Ausbildung zur Geigerin – parallel, ohne sich wirklich zu berühren oder miteinander zu sprechen.“

Das geschah erst mit Anfang 20 am Konservatorium der University of Cincinnati, Ohio, wo sie mit Künstler:innen aller möglichen Disziplinen in Kontakt kam. Durch die die neuen Begegnungen und Zusammenarbeiten begann kwon die Möglichkeiten ihrer eigenen Praxis als Violinistin zu erweitern. Sie studierte Jazz und improvisierte Musik, begann zu singen und für verschiedene Ensembles zu komponieren. „Durch das Spielen mit den Art Ensembles und die unmittelbare Erfahrung, was es bedeutet, sich jenseits von Genre-Kategorisierungen zu bewegen und sich stattdessen mit einem kompositorischen Ansatz in Echtzeit zu verbinden, entstand eine Verbindung, die wie ein Kanal für viele, viele, viele verschiedene Linien war“, sagt Kwon. Eine besonders große Inspiration war dabei die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), eine Musikervereinigung aus Chicago, die im Bereich des amerikanischen Experimentalismus und Free Jazz seit den 1960ern stilprägend war.

„Butoh hat es für mich aufgebrochen“

Während yuniya edi kwon ihre musikalische Praxis immer stärker erweiterte, begann sich noch ein weiterer paralleler Pfad aufzutun, der wesentlich für ihre künstlerische Praxis werden sollte: Bewegung und Tanz, Rituale und Zeremonien. Als junger Mensch hatte sie nicht wirklich viele Möglichkeiten gehabt, Tanz und Bewegung zu erkunden. „Die meisten körperlichen Aktivitäten, zu denen ich ermutigt wurde, waren Sport. Aber irgendwie wusste ich immer, dass ich Tänzerin bin – ob ich nun tanzen konnte oder nicht.“ Aber dann entdeckte kwon das japanische Tanztheater Butoh. „Das erste YouTube-Video einer Butoh-Performance, das ich sah, war von einer legendären Tanzgruppe namens Sankai Juku. Und es hat mich einfach umgehauen. Was ich sah, war so überwältigend schön und gleichzeitig grotesk, schrecklich, sinnlich, verspielt, ekstatisch, aber auch zutiefst spirituell und erdverbunden. Diese Künstler verkörperten und wurden zu diesen Energien, Kreaturen und sprudelnden Wesen, die ich noch nie zuvor gesehen oder erlebt hatte. Sie bewegten ihre Körper auf eine Weise, die sich so subversiv anfühlte. Es befreite wirklich meinen Geist und gab mir die Erlaubnis, auch meinen Körper zu bewegen und ein Kanal oder Gefäß für verschiedene Energien zu werden und mir zu erlauben, es zu sein.“

Gleichzeitig begann sie, sich mit ihrer koreanischen Herkunft auseinanderzusetzen. „Ich denke, meine Beziehung zur koreanischen Sprache war manchmal etwas angespannt und komplex. Da ich im Mittleren Westen aufgewachsen bin, gab es nur sehr wenige Mitglieder meiner leiblichen Familie, und ich hatte nur wenig Kontakt mit traditionellen koreanischen Instrumenten und Aufführungen. Und selbst später, als ich mich mehr zu meiner Queerness und Transness bekannte, fühlte sich die Idee koreanischer Abstammung und Herkunft für mich unerreichbar an.“

Die Fluidität der koreanischen Schamanen

Das änderte sich, als kwon auf die außergewöhnliche Geschichte der queeren und Transgender-Schamanen im Korea des frühen 20. Jahrhunderts stieß und all diese künstlerischen Stränge 2021 nach ihrem Umzug nach New York in der bereits erwähnten Arbeit vereinte: UMMA-YA, entstanden im Rahmen ihres Van-Lier-Stipendiums bei Roulette New York, war ihre erste große Solo-Performance, in der sie die verschiedenen künstlerischen Praktiken zusammenführte: Musik, Violine und Improvisation mit Tanz und Bewegung, inspiriert vom Butoh-Tanztheater und den Ritualen koreanischer Schamanen, und ergänzt um eigene autobiografische Erzählungen.

Was yuniya edi kwon in ihrer künstlerischen Praxis besonders interessiert sind kulturelle Kontinuitäten von queeren und Trans-Communities aus aller Welt. Für sie lassen sich von den koreanischen Transgender-Schamanen viele Verbindungslinien in die Gegenwart ziehen.

Schamanen sind dort Vermittler zwischen den Lebenden und einem reichen Pantheon von Göttern und Ahnen. Jahrtausendealten Traditionen folgend erfüllen die Mudangs, die koreanischen Schamanen, eine wichtige spirituelle und kulturelle Rolle, die überwiegend von Frauen ausgeübt wurde. Es gab aber auch Baksu Mudang, eine genderfluide Art von Schamanen, bei denen Männer die Rolle von Frauen übernahmen und Rituale durchführten. Diese frühe Form von Transidentität in Korea sind vergleichbar mit den Hijras in Indien, Pakistan und Bangladesch und den Two-Spirits der nordamerikanischen Ureinwohner. Im Korea der japanischen Militärbesatzung hatten sie eine einzigartige Stellung und Zugang zu vielen verschiedenen sozialen Schichten. Einerseits zur japanischen Besatzungselite, für die sie als Unterhalterinnen und tätig waren und Zeremonien zu besonderen Anlässen abhielten und Praktikerinnen verschiedener Zeremonien für Geburten. Und für die einheimischen koreanischen Communitys andererseits als Heilerinnen und spirituelle Figuren.

kwon: „Aufgrund ihrer Fluidität konnten sie für viele verschiedene Gruppen alles sein. Sie wurden verehrt, aber auch gehasst, ausgegrenzt, fetischisiert – all diese Dinge, die, wissen Sie, wenn wir uns anschauen, wie queere und transsexuelle Menschen heute auf der ganzen Welt wahrgenommen und behandelt werden, sehe ich eine solche Verdichtung dieser Erfahrung.“ Die Entdeckung der koreanischen Schamanen gab kwon die Möglichkeit, einen ungeahnten Zugang zu ihrer Abstammung zu finden: „Es ist diese Art von spiritueller Abstammung, die mich einbeziehen, unterstützen und umarmen kann, indem sie bejahende, inklusive Abstammungslinien schafft und einschränkende, cis-hetero-patriarchale Vorstellungen von Blutlinien und biologischer Abstammung ablehnt.“ In ihrer Arbeit versucht yuniya edi kwon genau dafür einen Raum zu schaffen: einen, in dem sie dem Formen und Traditionen der Schamanen huldigen kann, und sie gleichzeitig durch ihre eigene Erfahrung als koreanische Amerikanerin der zweiten Generation in New York filtern kann.

Alles, was von uns übrig bleibt: eine silbrig glänzende Perle

Das Stück, mit dem yuniya edi kwon nach Monheim reisen wird, trägt den vorläufigen Titel „silver through the grass like nothing”. Es ist eine Arbeit, an der sie schon seit einer Weile arbeitet, und das nach Solo-Varianten in Monheim nur erstmal gemeinsam mit sechs Musiker:innen aufgeführt wird: Darian Donovan Thomas (Violine), Joanna Mattrey (Viola), Tomeka Reid (Cello), Henry Fraser (Bass), Dudù Kouate und Nava Dunkelman (beide Percussion).

„silver through the grass like nothing” steht in der Tradition des experimentellen Musiktheaters und jahrhundertealten, rituellen Bräuchen. Kwon führt dafür zwei Themen zusammen: Zum einen bezieht sie sich auf das Phänomen der Śarīra: Im Buddhismus sind das Reliquien, meist kleine Perlen oder kristallähnliche Kugeln, die, so glauben Buddhisten, in der Asche von verstorbenen buddhistischen Meistern zurückbleiben. Deshalb werden Śarīras in verschiedenen buddhistischen Traditionen verehrt. Ihnen werden zudem besondere, heilende Kräfte zugeschrieben. „Diese silbernen, opalisierenden, perlenähnlichen Objekte gelten als Destillation der Lehren, der Weisheit und der Essenz eines Menschen“, erklärt Kwon. Für ihre Performance bringt sie die Tradition der Perlenrelikte mit einer persönlichen Leidensgeschichte zusammen: Seit 2020 wurde kwon immer wieder von „plötzlichen und mysteriösen Erkrankungen” heimgesucht. „Diese rätselhaften Erkrankungen haben mich zeitweise außer Gefecht gesetzt. Einmal konnte ich sechs Monate lang nicht laufen. Ein anderes Mal verlor ich für einige Zeit mein Augenlicht.“ All das ging für kwon mit medizinischen Traumata einher. Sie wurde vernachlässigt und nicht ernst genommen. Zudem fanden die Ärzte weder eine Ursache für ihre Symptome noch eine Behandlung. kwon war auf sich allein gestellt. „Erst als ich von den Perlenreliquien erfuhr, begann ich, zu verstehen, was passiert war. Ich begann mir diesen Prozess des Perlenwerdens als etwas vorzustellen, mit dem vielleicht jeder Mensch verbunden ist – nicht nur diejenigen, die als spirituelle Meister verehrt werden, sondern jeder ist in diesem Prozess, etwas zu erschaffen, das er hinterlassen kann, um den Menschen, die er liebt, nahe zu bleiben. Für mich ist die Perle zu einem Symbol oder einer Verkörperung der tiefen Sehnsucht des Geistes geworden, seinen Lieben nahe zu sein.“ Aus diesen Gedanken heraus entstand „silver through the grass like nothing” – als Mediation über Krankheit, Trauer und den unaufhörlichen Sog des Körpers in Richtung Transformation. „Das Stück ist eine Art geschaffene Mythologie, die sich dieser Elemente bedient: Es ist ein Dialog zwischen Körper und Geist, die zu einer Perle verschmelzen.“

„silver through the grass like nothing” ist als immersive Welt aus Klang, in einander fließenden Stimmen und heraufbeschworenen Geistern angelegt, in der kwon als Botin und Botschaft zugleich agiert. Das Ensemble spielt dazu eine Mischung frei improvisierter sowie komponierter Teile und durchläuft verschiedene rituelle Elemente, während kwon singt und Geschichten auf Koreanisch erzählt.

Die Freiheit der Zusammenarbeit

Auch abseits der neuen Performance hat kwon in den letzten Jahren immer wieder mit anderen Künstler:innen und Ensembles verschiedener Disziplinen zusammengearbeitet,darunter The Art Ensemble of Chicago, Du Yun, Tomeka Reid, Kenneth Tam und Moor Mother. Gemeinsam mit der abstrakten Künstlerin und Performerin Senga Nengudi und den beiden Degenerate-Art-Ensemble-Mitgliedern Haruko Crow Nishimura und Joshua Kohl bildet kwon das Kollektiv Juni One Set. „Der Name Juni One Set war eine Anspielung auf unsere kulturellen Hintergründe und die Art von Fernbeziehung, die wir führen, da wir alle in verschiedenen Teilen des Landes leben. Während wir an den einzelnen Stücken arbeiteten, hatten wir unsere Zoom-Calls in der Regel um 12 Uhr mittags Westküstenzeit, um 1 Uhr morgens Mountain Time und um 3 Uhr morgens New Yorker Zeit, wo ich mich gerade aufhielt. Juni ist japanisch für 12. One ist eins auf Englisch und Set ist drei auf Koreanisch.“ 2021 brachte Juni One Set das Stück „Boy mother / faceless bloom” auf die Bühne: eine interdisziplinäre Performance, die Mythologie und Autobiografie miteinander verknüpft und dabei auf die vielfältigen Traditionen queerer, antikolonialer künstlerischer Praktiken zurückgreift. Tanz, Musik, Poesie, Rituale und skulpturale Installationen kommen zusammen. kwon performt gemeinsam mit Haruko Crow Nishimura einen interaktiven Tanz, der zu einem Dialog ohne Worte wird und eine Geschichte von Transformation und Transgression erzählt.

Gemeinsame Improvisation ist ein roter Faden in yuniya edi kwons künstlerischer Praxis. „Ich liebe es, mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten, und ich nehme die Verantwortung und das Privileg, Künstler für ein Projekt zusammenzubringen, sehr ernst. Das Wichtigste für mich ist unsere gemeinsame menschliche Erfahrung. Deshalb möchte ich alles in meiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass jeder das hat, was er braucht, um sich frei zu fühlen und Zugang zu seiner wilden Kreativität zu haben.“

Neben Juni One Set gibt es auch noch tombstar, ein Kollektiv für frei improvisierte Musik, das kwon gemeinsam mit Isabel Crespo Pardo (Gesang), Lesley Mok (Schlagzeug und Zekkereya El-magharbel (Posaune) bildet. Im Jahr 2023 gründete sie mit den Komponist:innen und Improvisator:innen Laura Cocks, Jessie Cox, DoYeon Kim und Lester St. Louis das Klang- und Performancekollektiv SUN HAN GUILD. Und aktuell arbeitet sie zusammen mit ihrer Partnerin, der Musikerin Holland Andrews, die auch ihre Partnerin ist, an der experimentellen Oper „How does it feel to look at nothing”, die wie so viele ihrer Arbeiten Elemente von Komposition, Improvisation, Tanz, Theater und Ritual vereint, um eine Geschichte über Übergangszustände zu erzählen.

Egal an was yuniya edi kwon gerade arbeitet, immer gilt: „Ich bin weniger daran interessiert, mit einem großen C zu komponieren, wo ich diese perfekte Vision habe und eine perfekte Partitur schreibe, die dann perfekt ausgeführt wird. Ich möchte, dass das Werk selbst ein Partner in meinem Leben ist. Es ist ein dialektischer Prozess: Das Werk ernährt mich, und ich ernähre es – und wir wachsen sozusagen gemeinsam in dieser Spirale.“

yuniya edi kwons Kunst ist so unerwartet wie das Leben selbst.