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Selendis S. A. Johnson:
Eine Free Jazz-Radikale entfacht die Big Band-Revolution
Vivian Host
Selendis Sebastian Alexander Johnson spielt Vibraphon und Posaune – zwei Instrumente, die unterschiedlicher kaum sein könnten: in ihrer Spieltechnik und in dem, was sie von der Musikerin an Fähigkeiten verlangen. Im weiteren Sinne ist Selendis die Art von Person, die die Instrumente nicht sucht, sondern von ihnen gefunden wird. In ihrer Jugend brachte sie sich selbst Klarinette, Flöte, Bassgitarre und Saxophon – Alt- und Tenorsaxophon – bei. Durch eine Laune des Schicksals – und ganz pragmatisch durch einen Überhang an Schlagzeugern in der Schuljazzband – fand Selendis schließlich zum Vibraphon. Seither ist es das Herzstück ihres musikalischen Ausdrucks. Als sie 2020 eine Posaune geschenkt bekam, stand dieses Instrument zunächst ganz im Mittelpunkt – auch wenn es heute vor allem die klangliche Tiefe und Vielfalt der Orgel ist, die sie begeistert. In einem Veranstaltungsraum, den Selendis häufig nutzte, blieb eine Conn-Orgel zurück. Sie nutzte die Gelegenheit, um Gospel- und Jazzstandards vom Vibraphon auf die Orgel zu übertragen – und dokumentierte diese kreative Phase mit einem selbstveröffentlichten Soloalbum im Mai.

Auch wenn sie sich intensiv mit verschiedenen musikalischen Traditionen auseinandersetzt und ihnen mit großer Achtung begegnet, ist Selendis in ihrem Schaffen alles andere als „traditionell“. Aufgewachsen ist sie in San Rafael und anderen liberalen Kleinstädten in Marin County im Norden Kaliforniens, direkt auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge von San Francisco. Musik war dabei eine Konstante: Mit fünf Jahren begann sie Schlagzeug zu spielen und mit elf spielte sie bereits Bomba – die afro-puerto-ricanische Volksmusik – als Teil eines Jugendensembles im La Peña Cultural Center in Berkeley. „Meine Mutter war sehr darauf bedacht, dass ich die Geschichte des Jazz und auch die afroamerikanische Geschichte kenne“, erinnert sich Selendis. „Schon als Kind wurde mir Musik mit großer Ernsthaftigkeit nahegebracht – eher aus historischer Perspektive als mit Blick auf das praktische Musizieren.“ Mit einer Mutter, die im renommierten SFJAZZ Center arbeitete, und einem Vater, der zuhause Mingus und Monk hörte, bekam Selendis früh eine intensive Einführung in die Welt des experimentellen Sounds. Ein früher Hinweis auf ihre heutige Leidenschaft für das Spannungsfeld von Politik, Geschichte und radikalem Jazz findet sich schon in ihrem damaligen Lieblingsstück: Charles Mingus’ „Fables of Faubus“ von 1959 – eine politische Satire als Protest gegen den Gouverneur von Arkansas, Orval Faubus, der die Nationalgarde entsandte, um die Rassentrennung an der Little Rock Central High School mit Gewalt durchzusetzen. „Das war natürlich ein sehr ernster politischer Song der Bürgerrechtsbewegung“, erinnert sich Selendis gern. „Aber er war auch unglaublich witzig. Sie machten sich über diesen Gouverneur lustig – und ich war sieben und habe mitgesungen.“

Trotz all der klanglichen Eindrücke hatte Selendis noch nicht ihren ganz persönlichen musikalischen Weg gefunden – also zog sie sich eine Zeit lang aus der Musik zurück. „Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, als ich in der High School aufgehört habe, Musik zu machen“, erinnert sie sich. „Aber während meiner Pause habe ich viel Rock- und Orchestermusik gehört – die Art von Musik, die in Filmen verwendet wird und die diese große, epische Energie hat.  Als ich schließlich zum Musik machen zurückkehrte, entdeckte ich Pharoah Sanders – diesen mächtigen Sound, das expressive Tenorsaxophon, spirituelle Themen und endlose Improvisationen. Da war genau diese Energie, die ich auch in anderer Musik mochte und jetzt auch im Jazz vorfand.“ 

Da wurde ihr klar, dass sie eigentlich noch nie wirklich Jazz gespielt hatte. „Erst als ich mich für einen Jazzkurs einschrieb, begann ich, wirklich ernsthaft Musik zu machen“, sagt Selendis. „Ich habe mir die Instrumente selbst beigebracht und war mit echter Leidenschaft dabei – völlig autodidaktisch. Ich glaube, ich konnte deshalb so schnell Fortschritte machen, weil ich die Musik schon sehr gut kannte – schließlich war ich ständig von lokalen Jazzmusiker:innen umgeben. Das Verständnis für bestimmte Formen und Subgenres musste ich mir nicht mühsam aneignen, es war einfach schon vorhanden. 

Pushing the Vibes

Selendis wollte schon immer Multiinstrumentalistin sein. Doch als sie 2018 zum Studium an der New School nach New York zog, merkte sie schnell, wie kompliziert das Leben als Multiinstrumentalistin sein würde. „Als ich kurz davor war, professionelle Musikerin zu werden, musste ich mir Gedanken über die Logistik machen. Ich wollte zwar weiterhin all diese Instrumente spielen, aber man findet sie halt nicht einfach so an jedem Veranstaltungsort oder in jedem Proberaum vor – und leisten konnte ich sie mir auch nicht. Allein die Tatsache, dass ich Vibraphonistin bin, ist aus professioneller Sicht schon verrückt genug. Es ist ja im Grunde ein riesiger Tisch, den man ständig überallhin mitschleppen muss, mit öffentlichen Verkehrsmitteln geht da gar nichts. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich für ein Instrument zu entscheiden und die anderen Instrumente zurückzustellen. Aber dann lernte ich all diese Leute kennen, für die ich komponieren konnte. Manchmal war das eine Komposition, aber oft ging es mehr darum, Menschen zusammenzubringen und eine gemeinsame Vision zu entwickeln, anstatt alles alleine stemmen zu müssen. Und rückblickend würde ich das ebenfalls als Komposition bezeichnen.“ 

Mit mehreren Schlägeln gleichzeitig zu spielen, ist Selendis’ Spiel auf dem Vibraphon kinetisch und fließend, dabei aber völlig unerwartet. Ein Teil ihres einzigartigen Stils geht auf die Pandemie zurück, als sie wieder nach Nordkalifornien zog und sich erneut von der Musik abwandte – überwältigt von Regeln und Lehrplänen, die ihrer Kreativität im Weg standen. „Zu Beginn des Jahres 2021 schrieb ich schließlich alles auf, was sich wie ein Umweg zu dem anfühlte, was ich wirklich erreichen wollte – und hörte einfach mit all diesen Dingen auf. COVID nahm mir die Illusion, dass ich mich darauf verlassen konnte, immer mit anderen Musik machen zu können – also beschloss ich, auch allein zu spielen und dabei trotzdem eine kraftvolle Erfahrung zu machen. Ich übte praktisch jeden Tag ganz alleine auf meinem Vibraphon – ohne Vorbereitung, ohne Songs zu lernen, ohne Planung, ohne genrebasierte Richtung, einfach völlig improvisiertes Spielen.“ Das war anfangs eine Herausforderung, zwang Selendis aber dazu, verschiedene Methoden zu entwickeln, um zum Kern der Musik vorzudringen. Manchmal las sie vorher Texte und ließ sich von ihrer emotionalen Reaktion zu einer Performance inspirieren. Dies war nur eine der Improvisationstechniken, die sie bei ihrer Rückkehr nach New York mitnahm, begleitet von einem erneuerten Gefühl für ihr musikalisches Selbst und der Erkenntnis, dass sie mit Konventionen brechen und ihren eigenen Weg gehen musste. 

„Von meinem neuen Standpunkt aus konnte ich nun andere Musikstile, die ich spielte, auf eine andere Weise angehen“, erklärt sie. „Ich begann wirklich, gemeinsames Arbeiten in den Mittelpunkt zu stellen – etwas, das eng mit den Lektionen verknüpft war, die ich durch eigene Lektüre und persönliche Erfahrungen gewonnen hatte, anstatt darauf zu warten, dass mir jemand sagt, was ich tun soll oder mir eine Community vorgibt.“ 

The Sum is Greater Than

Selendis hat in den letzten Jahren eine stetig wachsende Community um sich herum aufgebaut, in der sie Konzerte mit einer eklektischen Mischung von Künstler:innen spielt und organisiert. Sie war Teil von TJ Milan-Bombaras philippinischem Jazz Fusion-Projekt „Angalo“, spielte mit Simon Hanes’ Chill Wave-Surf Band „Tsons of Tsunami“ und ko-kreierte „Palenque Monastery“, ein Jazz-Sextett, das die Werke von Thelonious Monk in einen historisch-politischen Kontext stellt. Die Musik hat sie zu vielfältigen Veranstaltungsorten geführt, von Teppichläden, Apartments und Kneipen bis hin zu experimentellen/noiseigen/avantgardistischen Treffpunkten wie The Stone, Ibeam und Roulette. Ein regelmäßiger Anlaufpunkt ist Brothers Wash + Dry, ein ehemaliger Waschsalon an einer ruhigen Ecke im industriellen Maspeth, Queens, wo Selendis Konzerte kuratiert, die interessante Kombinationen präsentieren, die Instrumente, Szenen und Stile überschreiten.  

Eine solche Konzertreihe war „We Are Greater Than (The Sum [From 1 To Selendis’s {=?=} Choice] Of 4n)“, die in Selendis’ Wohnung in Ridgewood, Queens, stattfand. Sie bot eine faszinierende Mischung aus Schlägeln und Rohrblättern, Cello, Flöte, Tenorsaxophon, Kontrabass, Keyboard und Klarinetten. „Ich bin eine Art zwanghaft musterorientierte Denkerin“, sagt sie. „Es fällt mir schwer, Dinge zusammenzustellen, ohne dass eine gewisse Symmetrie entsteht. Bei der „We Are Greater Than“-Reihe steckt schon im Namen eine mathematische Gleichung, und genau nach diesem Prinzip kuratiere ich auch alles – es sind immer vier Gruppen, und jede Gruppe besteht aus der gleichen Anzahl von Personen.“ Eine Performance könnte also vier Trios umfassen, die nächste vier Duos,  zusammengesetzt aus Musiker:innen, die sich kennen, und solchen, die sich zum ersten Mal begegnen. „Ab diesem Punkt fangen alle an, Verbindungen zu ziehen wie: ‚Welche Instrumentierung steckt zwischen diesen? Wie ist sie ähnlich? Wie unterscheidet sie sich?‘ Ich versuche einfach, diese vielen verschiedenen Dimensionen einzubringen, damit es Verbindungen gibt, so dass ich insgeheim die Zahl der Personen, die sich musikalisch und sozial treffen, radikal erweitern kann.“

Kollektive Inspiration

Die Parallelen zwischen Selendis’ Zusammenkünften und der Loft-Jazz-Szene der späten 60er und 70er Jahre in New York City sind unübersehbar – in dieser Zeit verwandelte ein Kollektiv junger, schwarzer Freidenker der Post-Coltrane-Ära Wohnungen, Galerien, Schaufenster und verlassene Industrieräume in nichtkommerzielle Veranstaltungsorte, die es ihnen ermöglichten, Klang, Stil, Politik und Spiritualität ohne Zwang radikal zu erforschen. Trompeter James DuBois, Saxofonist Julius Hemphill, Kornettist und Komponist Butch Morris, der avantgardistische Jazzpianist Cecil Taylor, Multiinstrumentalist Anthony Braxton und der bahnbrechende Free Jazz-Schlagzeuger Milford Graves (Mentor von Monheim-Triennale-Künstlern wie Greg Fox und Shahzad Ismaily) gehörten zu jenen, die ihre Kunst in diesen improvisatorischen Räumen kultivierten. Die Szene in New York war wiederum inspiriert von der Black Artists Group (BAG) in St. Louis und der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) in Chicago – zu deren Mitgliedern auch Anthony Braxton zählte. Der ungebrochene Drang, sich solche Off-Grid-Veranstaltungsorte zu erkämpfen, und die Leidenschaft, die erforderlich ist, um sie lebendig zu halten, sind heute wichtiger denn je – besonders in einem New York, das gleichzeitig zusehends verfällt und zunehmend von Konzernen vereinnahmt wird. Immobilienpreise steigen, während genau die kreativen Energien, die die Menschen einst in diese Stadt lockten, immer weiter erstickt werden.  

Der Einfluss der AACM und ihrer Kernformation, des Art Ensemble, war enorm für Selendis, insbesondere in Bezug auf den Fokus der Gruppe auf Komposition, kollektive Improvisation und die Integration verschiedener Instrumente sowie Kunstformen in ihre Aufführungen, die oft das Vortragen von Poesie und radikalen politischen Texten beinhalteten. „Die Musik des Art Ensemble und auch die Einzelwerke von AACM-Künstlern wie Joseph Jarman, Roscoe Mitchell und Malachi Favors waren immer meine größten Leitbilder“, sagt sie. „Es geht darum, wie man sich mit der [Jazz-]Tradition auseinandersetzt: politisch, musikalisch, gesellschaftlich? Und die Art und Weise, wie sie ihre Musik machten, leitet mich ebenfalls, wenn es darum geht, über Abstammung und Traditionen nachzudenken, über das, was vor und nach dir kommt.“  

Als John Zorn Selendis im Herbst 2023 anrief, um im legendären Avantgarde-Club The Stone in New York für Matana Roberts einzuspringen, blieb sie nächtelang wach, um Songs des Art Ensemble of Chicago zu transkribieren, damit sie diese mit ihrer Band spielen konnte. „Ich konnte keine Transkriptionen ihrer Werke finden, und zudem hat vieles von dem, was sie machen, einen einzigartigen Ansatz zur Komposition – es ist nicht im europäischen klassischen Stil gemacht. Sie verwenden keine ‚normalen‘ Formen, also lag ich jede Nacht einfach in meinem Bett, hörte mir die Stücke an und transkribierte sie bis fünf Uhr morgens. Dann stand ich um acht Uhr wieder auf und ging für Aufnahmen [mit Tsons of Tsunami] ins Studio. Es war verrückt, aber ich war einfach sehr dankbar für die Tradition … und überhaupt alles.“

Radikale Big Band

Wenn das wie ein riesiges Unterfangen klingt, liegt man richtig – Selendis fordert sich bei jeder Performance immer wieder zu noch größeren, komplexeren Werken heraus. Anfang 2023 kehrte sie mit 23 Jahren an ihre alma mater, die New School in New York, zurück, um Revolutionary Big Band Music zu präsentieren – eine Performance, bei der Selendis eine Big Band leitete, die aus New School-Studierenden bestand und mehrere seltene und radikale, epische Jazz-Extended-Werke aufführte:  Cal Masseys „Black Liberation Movement Suite“, ursprünglich 1969 von Eldridge Cleaver für die Black Panther Party in Auftrag gegeben, und „Struggle for a New World Suite“, eine 2006 entstandene „Sinfonie für Improvisierende“ von Fred Ho, einem marxistischen Sozialaktivisten und Komponisten, dessen Werk zutiefst von Massey inspiriert war.  

„Als ich wirklich in die Musik großer Ensembles eintauchte, war die größte Inspiration für mich ‚Ascension‘ von Coltrane; ich glaube, da sind zehn Leute dabei, und dann geht einfach jeder her und improvisiert mit einer grundlegenden Idee und spielt ein solo.“ Und dann gibt es einen Track vom Jazz Composer’s Orchestra-Album, auf dem Pharaoh Sanders ein Stück spielt, das unglaublich intensiv ist. Es ist einfach pure Energie. Als ich 18 war, waren die einzigen Aufnahmen, die ich von derartiger Musik finden konnte, aus den 1960er Jahren. Ich dachte mir: ‚Wo gibt es das denn heute noch?‘ Ich wollte so etwas hören und ich wollte so etwas machen. Seitdem ich nach New York gezogen war, träumte ich davon, eines Tages mit einer Big Band zu arbeiten – doch zu dieser Zeit schien dieser Gedanke noch weit außerhalb meiner Reichweite zu liegen. Aber ich habe die Idee nie aufgegeben. Und ich habe viele verschiedene Dinge getan, um darauf hinzuarbeiten, eines Tages vielleicht für immer größere Ensembles zu schreiben oder zu arrangieren.“  

„Im Jahr 2022, wurde ich auf das Cal Massey-Werk „Black Liberation Movement Suite“ aufmerksam, das von Fred Ho aufgeführt wurde – und das war wie der entscheidende Impuls“, fährt sie fort. „Ich fing gerade an, mich immer intensiver mit Politik und Musik zu befassen, und das Stück von Cal Massey traf genau mein Interessensgebiet: Es ist eine Hommage an und eine Reflexion über die Black Liberation-Bewegung auf eine Weise, die positiv und radikal ist. Ich beschäftigte mich mit Fred Ho und  schaut danach, wie er konzeptionell über die Kraft großer Ensembles nachdachte. Für mein Stück dachte ich viel über meinen musikalischen Bereich nach, über meine Traditionen, meine Beziehung zu dieser Kunstform, die klassische Tradition und darüber, ihre Vergangenheit in Verbindung mit anderen Traditionen zu bewahren.“ 

„Als ich ein Kind war, dachte ich, eine „Big Band ist doof. Der langweiligste Jazz.“ Denn in der Mittelstufe nahm ich an Big Band-Wettbewerben teil, und es fühlte sich an, als würde man eine militärische Musikideologie in den Jazz übertragen. Traditionelle Big Band-Musik, wie die von Count Basie, sagte mir nichts, aber Orchestermusik und ihre Live-Aufführungen liebte ich. Das Faszinierende am klassischen Bereich ist, dass diese Werke über Jahrhunderte hinweg immer wieder auf eine bestimmte Art und Weise aufgeführt werden – etwas, das in meinem Bereich eher selten vorkommt. Wir haben keine Big Bands, die groß angelegte Werke aufführen, und nur wenige Stücke schaffen es, in das reguläre Repertoire aufgenommen zu werden, wie zum Beispiel das Duke Ellington-Arrangement von „Der Nussknacker“, das von Schulbands gespielt wird. Aber für mich war die Frage: ‚Warum führen wir nicht dieses Stück auf, das 2022 von den Black Panthers in Auftrag gegeben wurde? Also habe ich das gemacht.“

Kampf, Spontaneität und Raum

Selendis fügte der Aufführung auch ein eigenes Stück hinzu: „Unity & Struggle (for Fred Ho)“, eine Reaktion auf die Werke von sowohl Massey als auch Ho, bei der sie die improvisatorischen Grenzen weiter auslotete. Sie bat die New-School-Spieler:innen, Fred Hos ‚Unity and Struggle with Kalamu Ya Salaam‘ und ‚Unity and Struggle‘ von Amílcar Cabral zu lesen, einem der führenden antikolonialen Anführer Afrikas, und sagte ihnen, sie sollten „die Prinzipien von Einheit und Kampf, wie ihr sie aus diesen beiden Schriften intuitiv versteht, auf das gemeinsame Improvisieren anwenden.“

„Ich wollte mich in einen Big Band-Sound und -Ansatz mit viel mehr Improvisation hineinarbeiten, aber keiner von uns hatte das bislang gemacht“, erklärt Selendis. „Und was sind die Ängste, wenn man 15 Personen dazu auffordert, zusammen zu improvisieren? Entweder spielt jeder viel und hört nicht auf die anderen, oder niemand wird wirklich einen Schritt nach vorne machen und etwas wagen, weil er Angst hat. Und das ist der Feind für mich. Deshalb habe ich mich sehr mit der Idee von Einheit und Kampf verbunden, über die Amílcar Cabral im Kontext der Bewegung in Guinea-Bissau und Kap Verde schrieb, und die Fred Ho im Zusammenhang mit seiner Beziehung zum Schriftsteller Kalamu ya Salaam behandelte. Diese Idee, gemeinsam zu arbeiten und gleichzeitig gegeneinander zu kämpfen, empfand ich als ein Prinzip, das es unbedingt in diesen musikalischen Kontext zu integrieren galt.“ Zusammenarbeiten bedeutet, sich durchzusetzen, zuzuhören, zu reagieren und in gewisser Weise zu kämpfen. Es muss schwierig und herausfordernd sein. Und diese Prinzipien bilden seither die Grundlage für unsere Improvisationen und Auftritte.“

Selendis hat nie aufgehört, mit der SSAJ Big Band zu arbeiten, die mittlerweile aus 35 rotierenden Musiker:innen besteht und immer größere, originale Werke aufführt, wie zum Beispiel Selendis’  „Symphony No. 1“, die im November 2024 in New York uraufgeführt wurde. Das Werk für 20 Musiker:innen – mit Instrumenten von Gitarre und Schlagzeug über Cello, Klarinette, Trompete bis Saxophon – trägt den Untertitel „I have always been transitioning (2017–2023)” und ist entlang einer sich wandelnden Chronologie von Selendis’ Erfahrungen in jener Zeit strukturiert: zwischen dem Moment, in dem sie ihre Trans-Identität erkannte, und dem Schritt, diese auch öffentlich zu leben.

„Als ich anfing, daran zu schreiben, kam ich überhaupt nicht vorwärts“, erinnert sie sich. „Ich versuchte, etwas zu komponieren, das von nichts handeln sollte – was ich eigentlich nie mache. Also beschloss ich, mich auf die ‚Größe‘ des Projekts einzulassen und über das Größte und Persönlichste zu schreiben, das mir einfiel: die Zeit zwischen dem inneren Erkennen, dass ich trans bin, und dem Moment, in dem ich es anderen sagte – also genau die Phase, die am wenigsten sichtbar war.“ Während des Kompositionsprozesses zu ihrer „Symphony No. 1“ dachte Selendis viel über Ausschmückung, Opulenz und Raum einnehmen nach – inspiriert von Traditionen, Transfrau-Sein und queerer Schwarzer Kultur, einem Spektrum, das Aktivist:innen wie Miss Major ebenso umfasst wie die Vogue-, Ballroom- und Banjee-Szenen. Gleichzeitig wollte sie das Stück rein instrumental belassen – offen für Interpretation. „Es ist eine Sinfonie, aber ich habe ganz bewusst darauf verzichtet, sie in Sätze zu unterteilen; das Stück beginnt und endet, ohne dass es irgendwo klare Zäsuren gäbe – es ist eine durchgehende, fließende Bewegung. Wenn man versucht, Jahre seines Lebens wörtlich oder musikalisch abzubilden, dann ist die ehrlichste Darstellung: alles fließt Tag für Tag ineinander. Ich hatte in dieser Zeit keine Pause – und das war, ganz ehrlich, oft einfach überwältigend.“ 

 „Die ‚Symphony No. 1‘ war eine Gelegenheit, viele kompositorische Ideen auszuprobieren – viele davon fließen nun direkt in das Stück ein, das ich für Monheim schreibe“, erklärt Selendis. „Das war das erste Werk, bei dem ich wirklich in dieses visuelle Kompositionsformat eingestiegen bin. Ich arbeite mit einem Format, das etwas größer ist als ein normales DIN-A4-Blatt, und notiere dort vertikal – wie in einer Liste – Anweisungen für bestimmte Instrumente, vom Anfang bis zum Ende des Stücks.“ Ich hatte noch nie etwas gesehen, das auf diese Weise geschrieben war – aber ich kam dahin nach Jahren der Frustration mit traditioneller Notenschrift. Ich habe ständig versucht, Anmerkungen in den wenigen Platz zwischen die Notenzeilen zu quetschen, und dachte irgendwann: ‚Das ergibt einfach keinen Sinn.‘ Also hab ich das Ganze umgedreht. Wenn wir in Passagen kommen, die stärker ‚auskomponiert‘ sind, werfe ich vielleicht mal klassische Notenblätter ein – aber das ist dann die Ausnahme, nicht die Regel.“ Dadurch wird das Material auch für Musiker:innen zugänglich, die keine Noten lesen können. Wenn das Medium die Botschaft ist, dann liegt es nur nahe, dass improvisierter Jazz nicht nur mit der klassischen westlichen Tradition bricht – sondern auch mit ihren kompositorischen Formen. 

Die Musik der Revolution

Das Ethos von Selendis’ Arbeit mit Big Bands bildet das Fundament ihrer Performance bei der Monheim Triennale 2025. Das Gruppenstück – an dem voraussichtlich acht oder neun Musiker:innen beteiligt sein werden, die auf Grundlage von Selendis’ eigenwilligen Notationsmethoden improvisieren – trägt den vorläufigen Titel ‚Reflections on the German Revolution‘. Musikalisch reagiert es auf Selendis’ persönliche Auseinandersetzung mit der deutschen Revolution von 1918/19 – jenem Umbruch, der das Ende der Monarchie markierte, zur kurzlebigen Weimarer Republik führte und, wie manche sagen, den Boden für den Aufstieg der Nazi-Bewegung bereitete. Selendis zieht Parallelen zwischen den damaligen Entwicklungen – Gewalt, Umsturz, Verfolgung und politischen Verschiebungen – und der gegenwärtigen Lage in den USA. Dabei verknüpft sie die Geschichte der Black Panther Party, Fred Hampton und der schwarzen radikalen Bewegung mit ihren eigenen Erfahrungen als schwarze, experimentelle Musikerin in einem Umfeld jenseits der Jazzorthodoxie.

„Ich bin ein großer Fan von Geschichte, besonders in ihren Verflechtungen mit Politik und der schwarzen radikalen Tradition. Und die Idee der ‚Deutschen Revolution‘ taucht häufig in den Traditionen auf, in denen sich die Black-Liberation-Bewegung verortet“, sagt Selendis. Sie betont, dass die Black Panthers, W. E. B. Du Bois, Langston Hughes, Cedric Robinson und heutige radikale Denker:innen die Geschichte europäischer und globaler Revolutionsbewegungen studiert haben – und dieses Wissen in ihre Überlegungen einfließen ließen, wie sich heutige intersektionale Kämpfe führen lassen.  

„Schwarze radikale Internationalist:innen haben immer auf die Geschichte europäischer Bewegungen geschaut, mit denen sie sich verbunden fühlten und aus denen sie lernen konnten – das sieht man ganz deutlich etwa an der Auseinandersetzung schwarzer Autor:innen mit der Russischen Revolution. Sogar bei den Panthers wurde über Rosa Luxemburg nachgedacht. Die Art, wie wir heute als Radikale in den USA existieren, ist wesentlich weniger nach Hautfarbe getrennt als noch in den 60ern und 70ern. Wenn also etwas wie der Aufstand 2020 passiert – die George Floyd-Proteste –, dann beteiligen sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Aber angeführt wird das von schwarzen amerikanischen Themen und Anführer:innen. Gleichzeitig denken viele über andere große Protestbewegungen nach, die weltweit ständig stattfinden, und wir versuchen, voneinander zu lernen – wie solche Bewegungen entstehen, wie sie sich organisieren. Diese Tradition ist mit Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt verbunden. Das ist keine rein schwarze Sache. Und es ist auch nichts, das nur von schwarzen Menschen gelernt werden kann.“  

Der erste Teil des Stücks verweist auf das Jahr 2020 in den USA, als der Mord an George Floyd durch einen Polizisten in Minneapolis – festgehalten auf einem Handyvideo – monatelange landesweite „Black Lives Matter“-Proteste auslöste. „Für mich gibt es eine ganz deutliche Parallele zwischen dem, was 2020 in den USA passiert ist, und den Ereignissen in Deutschland 1918/19. Damals wie heute hat ein einzelnes Ereignis Proteste in verschiedenen Städten ausgelöst – jede Stadt hat anders reagiert, aber sie versuchten, sich gegenseitig zu unterstützen. Etwas Ähnliches ist 2024 bei den Palästina-Camps wieder aufgetaucht, und ich sehe es auch bei Occupy-artigen Bewegungen. Ich glaube, solche Entwicklungen werden künftig häufiger vorkommen und immer wichtiger werden. Und ich will mich damit auseinandersetzen, dass die revolutionären Ereignisse in Deutschland damals vielleicht sehr ähnlich aussehen wie das, was man sich heute unter einer Revolution in den USA vorstellen würde. Aber letztlich wurde diese Revolution als gescheitert, als kontraproduktiv, als gehemmt wahrgenommen – sie war viel verwirrender, als wir im Rückblick gerne über Revolutionen sprechen. 

Das Stück wird von acht Musiker:innen aufgeführt: Selendis selbst spielt Vibraphon und vielleicht Posaune, dazu kommen einige ihrer New Yorker Weggefährt:innen aus der SSAJ Big Band – darunter Kontrabassistin Caroline Morton, Schlagzeuger Josh Mathews und Pianist/Komponist Hans-Young Binter – sowie der Düsseldorfer Gitarrist Christoph Götzen, die italienische Saxofonistin Francesca Fantini und der Kölner Posaunist Moritz Wesp. „Bei diesem Stück ging es mir vor allem darum, dass bestimmte Menschen dabei sind“, erklärt Selendis zur Instrumentenwahl. „Ich liebe es, mit Bläsern zu arbeiten, weil ich sie verstehe. Und ich wusste, dass ich eine Jazz-Rhythmusgruppe brauche. Was ich auch unbedingt brauche, ist eine Posaune. Ich liebe die Posaune. Dieses Stück ist eine sehr persönliche Reflexion – und wenn eine Posaune dabei ist, fühlt sich das für mich auf persönlicher Ebene ausdrucksstärker an. Es wird kein klassisches Jazzoktett sein – der Fokus liegt auf den einzelnen Stimmen, auf der Performance jedes Einzelnen, und darauf, wie der Klang zwischen den Instrumenten fließt. Die Instrumente sind für mich wie eine Palette, aus der ich bestimmte Gruppen zusammenstelle und in bestimmten Momenten jeweils andere Klangfarben betone.“  

„Das wird auf jeden Fall eine Herausforderung für mich“, sagt Selendis, die sich auf den Dialog freut, den die Musik anstoßen kann. „Ich will niemanden von irgendetwas überzeugen. Es geht darum, Geschichte zu teilen und sich mit den Gefühlen auseinanderzusetzen, die sie bei anderen auslöst. Dieses Stück wäre auch entstanden, wenn es nicht in Deutschland aufgeführt würde – aber ich bin froh, dass es in Monheim stattfinden kann. Ich bin schon lange in die historischen Recherchen für dieses Projekt vertieft  und will reflektieren, welche Lehren man aus diesen Ereignissen heute ziehen kann. Es ist ein sehr persönliches Werk über meinen Prozess, diese Geschichte zu verstehen – ein emotionaler Prozess –, und über eine Episode deutscher Geschichte, die ich sehr schätze und respektiere. Ich bin einfach sehr dankbar, dass ich dazu eingeladen wurde – und für die Geduld der Menschen in Deutschland, dass ich mich einer so umstrittenen Phase ihrer Geschichte widmen darf.“