

Spielwiese der Sounds
In eine Art buntes Korallenriff wie von einem fremden Planeten scheint glitzerndes heißes Wachs zu fließen, durchdrungen von metallisch glänzenden Formen, die an einen Paradiesvogel erinnern, oder ein Raumschiff, oder eine züngelnde Flamme. Unter dem Namen „kirschbluetenimwind“ kreiert der junge Künstler Ludwig Wandinger futuristische Collagen, die er als 3D-Modelle skulpturiert. Der digitale Bildhauer ist eigentlich studierter Schlagzeuger und Produzent, und seine Multimedia-Kunstwerke sehen im Prinzip so aus, wie seine Musik klingt. „Lustigerweise ist der Approach, wie ich meine Bilder gestalte der gleiche, wie wenn ich Musik mache. Ich schieße den ganzen Tag Fotos von meiner Umgebung, die mich inspirieren – das kann alles sein, ein Graffiti oder eine Lichtspiegelung“, erklärt er. „Meine Bilder sind aus visuellen Elementen, analogen Zeichnungen und Texturen aus verschiedenen Orten und Zeiten zusammengefügt. Genauso habe ich mir über die Jahre eine Soundbibliothek aufgebaut mit Klängen, die ich selbst synthetisiert oder aufgenommen habe.“ Wandingers Tracks bestehen aus Bausteinen aus allen möglichen Sessions, Plug-Ins, Effekten. Diese sind ähnlich vielgestaltig und experimentell wie seine Visuals.
Wilder Frieden und Musik wie aus dem All
Eine Kostprobe kann man seinem neuesten Album „Is Peace Wild?“ entnehmen, das am 4. Oktober 2024 bei Light Years erschienen ist. In den neun Stücken traumwandelt man beim Zuhören einen Meter über dem Boden oder eine Minute vor der Dissoziation. Im Titeltrack tüncht die Stimme der Dichterin und Aktivistin Yves B. Golden über Wandingers sanft einlullenden Arpeggien die Worte: „Balloons and birds delight in the flow of air between rooms“. In dieser Luft zwischen Räumen erschafft Wandinger hypnotische Sound-Skulpturen aus schrägen Pads und schwebenden Spieldosen-Synthies. Auf dem erhabenen „Vien“ sprenkelt Wandinger in elegische Orgel-Sounds metallisches Krachen und raspelnde Bässe, während am Horizont nachdenkliche Noten schimmern. „Xhausted Form“ changiert zwischen Licht und Schatten: Beinahe sakrale Akkorde werden von dissonanten Knackgeräuschen und beunruhigenden Rückkopplungsschreien unterbrochen. Seit fast 50 Jahren schweben die Voyager Golden Records mit Musikbeispielen von der Erde auf Schallplatten durchs Weltall – das Album „Is Peace Wild?“ klingt wie die Antwort darauf aus einer entfernten Galaxie. Musik von Aliens. Auch die Sängerin Evita Manji trägt zur erhabenen Atmosphäre der Platte bei. „Es ist fast so, als würden sie mir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen“, sagt Wandinger über die Zusammenarbeit mit den beiden befreundeten Künstlern. Für den Musiker ist „Is Peace Wild?“ sein bisher persönlichstes Werk. Man hört ihm die Suche nach sich selbst, nach Antworten, vielleicht nach Frieden an, die eine zehrende Beziehung hinterlassen hat. Er bastelte an den Tracks in Hotelzimmern zwischen einer Reihe von chaotischen Live-Shows. Und derer gab und gibt es im Leben von Ludwig Wandinger viele.
Von Weilheim in die weite Welt
Als gefragter Schlagzeuger stand er bereits auf der Bühne mit Künstler:innen wie unter anderem the Notwist, Kianí del Valle, Grischa Lichtenberger, Brodinski oder Female Pentimento. Auch ein Engagement mit dem Berliner Ensemble gehört zu seinem beträchtlichen Portfolio. Seine Arbeit brachte ihn außerhalb Europas bereits in Länder wie China, Ecuador, Vietnam, Malaysia oder Indonesien. Er hatte Auftritte beim Jazz Fest Berlin, Moers Festival, Magnet Festival, A l’Arme Festival oder dem Jazzfestival Reykjavik. Auch in der Neuen Nationalgalerie oder der Berlinischen Galerie war Wandinger bereits vertreten.
Seine Laufbahn wundert kaum bei seinem Werdegang. Seine Liebe zur Musik begann in seinem musikalischen Elternhaus im oberbayerischen Nest Weilheim, wo er 1995 geboren wurde. Erst brachte sich Ludwig selbst Klavier und Gitarre bei, dann Schlagzeug. Kaum nahm er Unterricht, wurde er so gut, dass er beim Vorspielen an der Hochschule für Musik und Theater München im Alter von nur 16 Jahren als Jungstudent angenommen wurde. Fortan ging es alle zwei Wochen in die Großstadt zum Studium des Instruments. Dazwischen übte er in jeder freien Sekunde und in jeder Pause so eifrig in den Proberäumen seines Gymnasiums, dass seine Mitschüler:innen irgendwann nicht mehr wussten, ob Ludwig überhaupt noch an der Schule ist. „Ich bin bis heute dankbar über das musikalische Angebot an meiner Schule. Ich konnte viel jammen, herumprobieren und mich früh entfalten”, sagt er. Schon früh spielte er in diversen Gruppen, sowohl in Rockbands im Stile von Radiohead als auch in einer Big Band. 2016 und 2017 gehörte er zum Bundesjazzorchester. An der Hochschule für Musik und Theater war er in den Studierenden-Bands stets einer der Jüngsten, begleitete schon im Alter von nur 17 Jahren seine Kommiliton:innen bei ihren Masterarbeit-Performances am Schlagzeug. Nach dem Abitur die Welt entdecken, jobben, „Work and Travel“ nach Australien? Anders als seine Freunde wollte Wandinger nichts anderes, als zu Hause zu bleiben – klar, dort stand nun mal sein Schlagzeug. Ein Jahr lang bestand sein Leben daraus, von morgens bis abends zu üben. Man spürt die Leidenschaft, wenn er davon erzählt.
Zwischen „School of Rock” und Jazz
Irgendwann schrieb Wandinger sich ein für ein Bachelorstudium am Jazzinstitut in Berlin. Eindeutig war die Entscheidung zwischen Rock, Pop und Jazz für ihn nicht. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Komödie „School of Rock” aus dem Jahr 2003 mit Jack Black. „Ich hab’ den Film als 13-Jähriger sehr geliebt und kam über ihn auf diese ganzen Classic-Rock-Hits. Ich habe viel Led Zeppelin gehört, die Ramones krass geliebt, Nirvana auch. Ich liebe laute Musik. Ich fühle mich wie ein Schlagzeuger, der weiß, worum es im Jazz und in der Improvisation geht, der aber versucht, die Energie eines Rockdrummers einzubringen. Es macht bei Rock-Konzerten so Bock, voll auf die 12 zu hauen und alle gehen mit”, sagt er. „Das hat mich in meinem Jazzstudium genervt: ‚Du spielst zu laut’ – das hab ich so oft gehört. Ich genieße es sehr, mit Fingerspitzen zu spielen, aber ich will auch echte Dynamik in einem Konzert, Höhen und Tiefen, viel Energie. Ich habe Lust, Leuten einen Push zu geben. Live-Musik bedeutet für mich, Musik nicht nur zu hören, sondern auch physisch zu spüren. Den Bass, der wie Wärme in den Körper dringt. Viele Shows sind mir oft zu leise, ich mag es, wenn es in meinem Körper vibriert.“
Durch seine Radiohead-Liebe kam er über Kid A zu Aphex Twin und Björk, begann, sich für abstrakte Texturen zu begeistern. Seitdem lebt er neben dem Jazz in der Welt der elektronischen Musik, spricht ihre Sprache, atmet ihre Luft. Er schiebt seinen Ärmel hoch und legt ein Tattoo der britischen Produzentin SOPHIE frei: Seinen linken Unterarm ziert ihr Schriftzug. Ihr grenzüberschreitender Stil und experimentelles Sounddesign war bahnbrechend für elektronische Musik und Pop und schlug eine Brücke zwischen Mainstream, Underground und Avantgarde. Sie starb mit nur 34 Jahren tragisch durch einen Sturz, bleibt in der Szene aber unvergessen. „SOPHIE hat meine Musik sehr beeinflusst. Sie hat mir einen Weg gezeigt, wie man extrem experimentell sein kann, sich aber gleichzeitig nicht davor scheut, wahre Emotionen zu zeigen und Menschen zu erreichen.”
Grenzen und Genres ausloten
Wer so interessiert ist an und versiert ist in verschiedenen Genres, bringt als Signature Artist genau jene Vielseitigkeit mit, die die Monheim Triennale auszeichnet. „Ich freue mich sehr darauf, dass meine Band Atelic Halo in Monheim auf den ersten Blick bunt zusammengewürfelt aussieht. Ich merke mittlerweile sehr schnell, welche Sprachen die Künstlerinnen und Künstler sprechen. Für mich bedeutet das Festival kompromisslosen Austausch und die Feier der Kunst der Improvisation”, sagt Wandinger. Besonders angetan hat es ihm etwa unter anderem der Kollege Peter Evans, Trompeter, Bandleader und eine der führenden Stimmen der Solo-Trompetenmusik. “Ich freue mich darauf, Peter Evans bei meinem Soloprojekt dabei zu haben. Sein Konzert in Berlin vor acht Jahren war definitiv in den Top 5 meines Lebens!”, erzählt Wandinger begeistert. Evans trat dort mit seinem Quintett auf. „Da gab es transzendente Momente, in denen man nicht fassen konnte, was gerade auf der Bühne passiert. Ich mag es, wenn Artists extreme Sachen machen, Grenzen ausreizen. Wenn ich solo spiele, versuche ich auch, ins Extreme zu gehen, indem ich zum Beispiel eher kalte und harsche Sounds verbinde mit etwas sehr Warmem, Ruhigem. Ich finde es sehr menschlich und schön, ein breites Spektrum an Emotionen in meiner Musik wiederzugeben.” Und er ergänzt: „Bei vielen Jazzplatten gibt es manchmal ganz kurze Momente, in denen ich denke: Ich würde gern ein ganzes Album nur in dieser einen Mood machen! Oftmals springt es mir viel zu schnell hin und her, um das wirklich als Zuhörer genießen zu können.”
Atelische Verben und Heiligenscheine
Extreme Klangkunst kann man von seinem Signature Projekt „Atelic Halo” erwarten: ebenso unberechenbar wie schön, ebenso überwältigend wie still. Gemeinsam mit seinen liebsten Wegbegleiter:innen Luka Aron, Elvin Brandhi, Rian Treanor und Yves B. Golden möchte Wandinger die Grenzen zwischen Elektronik und Akustik ausloten, ebenso die Grenzen von Zeit. Wann beginnt etwas und wann endet es? Ein Hinweis auf dieses Forschungsinteresse liefert der Titel: Ein sogenanntes atelisches Verb beschreibt Zustände, Prozesse oder Relationen, die nicht zeitlich begrenzt oder bestimmbar sind. Es geht also um den Ablauf eines Geschehens. Beispiele für atelische Verben sind sein, träumen, blühen. Wandinger suchte lange nach einem Namen für sein Projekt, der ebenso bedeutungsoffen wie bedeutungsvoll ist. „Halo”, also der Heiligenschein, hat für ihn wiederum eine klare politische Dimension. „Ich befasse mich schon lange mit Images in der Politik. Die Masken sind immer offensichtlicher verzogen. Man sieht immer mehr, wer schuldig und wer unschuldig ist. Das ist eine Scheinheiligkeit, die ich nicht ertragen kann. Ich bin oft frustriert und wütend und versuche, in meiner Musik aufzurütteln – im besten Fall auf hoffnungsvolle Art.” Auf eine Bühne verzichtet er, ebenso darauf, dass das Publikum still auf Stühlen sitzen soll. „Wir werden auf dem Boden spielen und die Leute sollen sich frei im Raum bewegen können”, plant Wandiger in seiner Rolle als Signature Artist. Peter Evans tritt zu seiner Freude als Special Guest gegen Ende des Konzerts auf.
Knisterfolie und Musik aus der Badezimmerlüftung
Es wird deutlich, dass Wandinger einen spielerischen Zugang zum Musikmachen hat, und so ist auch das Schlagzeug für den Künstler ein Spielplatz an Sounds. Es sind nicht einfach Trommeln und Becken, die er nach Plan bedient, sondern das Instrument steht in einer Umwelt, die Wandinger beim Musizieren einbezieht. Das kann eine Folie sein, die er knistern lässt oder eine Wasserflasche, die als Teil des Drumsets eingesetzt wird. „Als Solo-Drummer bin ich nicht sonderlich daran interessiert, ein Schlagzeug zu spielen, das nach Schlagzeug klingt. Ich mag es, wenn Utensilien herumliegen, mit denen für mich auf kreative Art interessante Klänge kreierbar sind. Ich habe aufgehört, in Kategorien zu denken wie: ‚Eine Snare ist ein Instrument, eine Wasserflasche ist keins.’ Eine Folie ist für mich nicht weniger Instrument als eine Trommel. Beides erschafft Klänge. Wenn es weird klingt, fühlt es sich oftmals sehr gut an für mich”, sagt Wandinger.
Traurige Terzen und lustige Sessions
Für den Experimental-Produzenten kann die ganze Welt eine Spielwiese an Klängen sein. Da kann es schon mal passieren, dass er im Hotelzimmer in Monheim abends stundenlang die Lüftung im Badezimmer aufnimmt, „weil sie ein Drone gespielt hat, so eine tiefe traurige Terz – die klang extrem schön!” Über diesen Mitschnitt hat er ein paar weitere Sounds aufgenommen und fertig war der für ihn perfekte Track. Der Ableton-Bastler recherchiert oft wie besessen nach Plug-ins, Tools, Effekten. „Ich hatte lange Phasen, in denen habe ich manisch versucht herauszufinden, wie Artists wie Flying Lotus oder ARCA ihre Sounds produzieren und versucht, das nachzuahmen. Ich hab’ das natürlich nie hinbekommen, aber sehr viel dabei gelernt und dabei nach und nach meine eigene Stimme entwickelt. Denn ich strebe schon danach, Sounds zu produzieren, die ich noch nicht gehört habe”, sagt er.
