

Dislocated Timeless Folklore
In ihrer künstlerischen Arbeit bewegt sich Rojin Sharafi gerne an der Grenze zwischen Aggression, Spannung und Energie. Ihre Musik kann hektisch, unberechenbar und aufwühlend sein, bleibt aber dennoch harmonisch – wie ein klangliches Wimmelbild, auf dem es immer wieder Neues zu entdecken gibt. Sie findet selbst die besten Worte für ihr Schaffen und spricht von einer „ausgedachten Unruhe“. Sharafi reizt die möglichen Extreme des musikalisch Möglichen aus, egal ob Frequenzen, Rhythmen, oder generell die Vorstellung klassischer Harmonien, die sie widerlegt und ihre Hörerschaft immer wieder eines besseren überzeugt. Das Schaffen der Komponistin und Performerin in eine Schublade zu packen, fällt deshalb schwer. Nicht kategorisierbar zu sein, sagt sie, gefalle ihr.
Sharafi wurde in der iranischen Hauptstadt Teheran geboren und lebt heute in Wien. Sie komponiert experimentelle elektronische und elektroakustische Musik, die sie auf bisher vier Solo-Alben veröffentlicht hat. Darüber hinaus bildet sie mit Sänger Omid Darvish und Saxofonist Álvaro Collao Leon das Trio HUUUM, das volksmusikalische Formen aus verschiedenen iranischen Regionen mit Elementen von Jazz und elektronischen Impulsen zu einem, laut Selbstbeschreibung, Folk Futurism anreichert. Des Weiteren arbeitet sie interdisziplinär an Film-, Tanz- und Kompositionsaufträgen. Sharafi ist ein wahrhaftiger Tausendsassa, deren Musik ihr klassischer Background ebenso anzuhören ist wie ihre mannigfaltigen musikalischen Einflüsse.
Sharafi wird 1995 geboren. Sie wächst in einem Elternhaus auf, in dem Musik eine große Rolle spielt, wird schon in jungen Jahren mit Carls Orffs „Schulwerk“ konfrontiert und erhält später klassischen Klavierunterricht. An ihren Lehrer erinnert sie sich heute als einen, der zwar „als einer der besten galt“, aber strikt und nie zufrieden gewesen sei. „Diese alte Tradition von klassischer Musik war für mich traumatisierend“, sagt sie heute. Für die junge Musikerin ist das buchstäblich einengend. „Mein Lehrer hat mir immer gesagt, ich solle mich weniger bewegen!“, lacht sie. Vor allem als Teenagerin habe sie sich mehr für Rock und Heavy Metal interessiert, zugleich beginnt sie damit, alte und volkstümliche Musik aus der ganzen Welt zu sammeln, insbesondere aus ihrem Heimatland Iran. „Ich konnte zwischen diesen beiden Welten keine Brücke schlagen“, sagt sie heute über den Konflikt zwischen diesen Leidenschaften und ihrer Ausbildung.
Immer in Bewegung
Im Jahr 2012 zieht sie als nur 17-Jährige für ein Kompositionsstudium nach Wien. Der Umbruch in ihrem Leben ist auch ein klanglicher. „Teheran und Wien sind für mich Kontraststädte“, erzählt sie. „Teheran ist sehr groß, es passiert sehr viel, Wien hingegen ist ruhiger. Damit musste ich erstmal umgehen lernen, nachdem ich nach Wien gezogen war.“ Anfangs der zeitgenössischen Musik als Inspirationsquelle verschrieben, wendet sie sich im Studium davon ab. Zu starr sind die Strukturen und zu strikt die Hierarchien, sagt sie. Ihr habe schlichtweg etwas gefehlt. Stattdessen beginnt sie zu experimentieren. Sie fängt an, sich mit elektroakustischer Komposition zu beschäftigen und befasst sich fortan mit unterschiedlichen musikalischen Ausdrucksformen und Traditionen – mit Jazz-Harmonien etwa und, in Wien unvermeidlich, Rave.
Inspiration kommt aber auch von anderen Kunstformen – allem voran Film und Literatur. „Mit 16 Jahren war ich Teil einer Gruppe, mit der wir viel geschrieben und Filme geschaut haben. Das hat uns alle sehr geprägt.“ Die sukzessive Erweiterung ihrer Interessen spiegeln sich in ihren zahlreichen Projekten wider. Sharafi spielte bereits mit dem Why Not? Collective, dem Decoder Ensemble, dem Schallfeld Ensemble, dem Black Page Orchestra oder dem Ensemble United Berlin zusammen, arbeitete aber genauso auch regelmäßig mit Film- und Tanzproduktionen, in der Vergangenheit unter anderem für Arte Creative und das Tanzquartier Wien. Ihr Debütalbum „Urns Waiting to Be Fed“ erschien 2019 auf Zabte Sote, einem Label für experimentelle Musik von Künstler:innen aus dem Iran und der iranischen Diaspora, das vom Komponisten Sote betrieben wird und sich auf elektronische Klänge spezialisiert hat.
Sharafis Schaffen als Solo-Künstlerin geht ein langer und kreativer Schaffensprozess voraus. Vor der eigentlichen Komposition begibt sich die Künstlerin auf Recherche, sammelt Materialien, feilt an Konzepten, an der Textur und an ersten Skizzen. Kreativen Input zieht sie dabei aus Filmen, aus dem Theater und anderen Musikstücken. Ihr zweites, im Jahr 2020 ebenfalls bei Zabte Sote erschienenes Album „Zangaar“ basiert auf eigenen Gedichten, die sie selbst in Form von Spoken Word in die acht Stücke integriert. Sie beschäftige sich auch literarisch, berichtet sie, möchte das Hobby aber nur ungern zum Beruf machen. „Ich finde es gut, einige Sachen nicht professionell zu machen“, erklärt sie. „Seitdem ich professionell Musik mache, nehme ich vieles anders wahr und kann manche Dinge nicht mehr so genießen wie früher.“ Auf „Zangaar“ immerhin kommen beide Ausdrucksformen in Perfektion zusammen.
Sharafis interdisziplinärer, von narrativen und dramatischen Formen inspirierte Ansatz wird deutlich in der Gestaltung ihrer Stücke und in den Stilmitteln, derer sie sich bedient. Das umschließt einerseits künstlerische Verfahren wie Montage- und Collagetechniken, aber auch Rückgriffe auf dramatische Formen wie das Rollenspiel, genauso aber erzählerische Kniffe wie Ana- und Prolepsen. Dabei fließen immer wieder auch persönliche Themen und Reflektionen in die Kompositionen ein. Deutlich wird das zum Beispiel auf ihrem Album “Kariz”, auf dem die Künstlerin nicht nur Elektronik und Akustik kombiniert, sondern auch mit gegensätzlichen Stimmungen arbeitet. “Ich konnte viel mit visueller Inspiration, Räumen und Storytelling arbeiten – alles basierend auf dem Konzept von Kariz, einem alten, nachhaltigen System, das vor 3.000 Jahren erbaut wurde, um die Speicherung von Wasser in Wüstengebieten zu ermöglichen”, sagt Sharafi. Kariz, dieses lebenserhaltende System, wendet Sharafi auf eine persönliche Ebene an: Das Album thematisiert die Suche nach einem Zusammenleben mit dem eigenen Körper, dem Zuhause, der Vergangenheit, aber auch dem heutigen Umfeld. “Bei Kariz geht es darum, dein ‘Ideal-Ich’ als Holobiont in deinem Lebensumfeld zu akzeptieren”, so Sharafi.
„Für mich sind meine vier Alben Teile meines Lebens, die ich musikalisch verarbeitet habe“, erklärt Sharafi weiter. „Da ist sehr viel von mir drin, selbst wenn ich mich mit anderen Themen beschäftige.“
Psychoanalyse und Anarchie
Am ehesten zeigt sich das wohl auf ihrem jüngsten, vierten Album „O.O.Orifice“. Darin fließen ihre Interessen für verschiedene musikalische und nicht-musikalische Themen sowie Emotionen ineinander. „Ich beschäftige mich seit einigen Jahren mit Psychoanalyse – ich lebe schließlich in Wien“, lacht Sharafi. Sie habe sich selbst einer Analyse unterzogen, dadurch seien ihr auch ihre eigenen Begehren ganz anders bewusst geworden. „Das hat meine Wahrnehmung und mein Leben erschüttert“, berichtet sie. Und es hat sich auch auf die formale Gestaltung der Musik ausgewirkt. „Auf dem Album habe ich mich sehr für Cuts interessiert, denn nach jeder Analysesitzung findet auch ein Schnitt statt“, erklärt Sharafi. „Je stärker der ist, desto mehr muss man sich nach der einen und vor der anderen Sitzung damit befassen. Meine Frage war: “Wie kann ich das musikalisch umsetzen?“
Auf „O.O.Orifice“ verschmelzen analoge Synthesizer, mikrotonale akustische und digitale Instrumente, verstreute Rhythmen und Poesie sowie der subtilere, mal konfrontativere Einsatz ihrer eigenen Stimme zu einer komplexen Erzählung über Liebe und Anziehung, Psychoanalyse, Scham, den Verlust von Heimat und die Erfahrung von Ablehnung. Musikalisch übersetzt Sharafi diese Themen durch ein Konglomerat verschiedener Klangfarben und Texturen, verleiht dadurch jedem Song eine ganz eigene, abstrakte Atmosphäre, die ihrer Hörerschaft einiges an Aufmerksamkeit abverlangen. Aggression, Spannung und Energie – dieses Album strotzt nur davon.
Diese hörbare Anarchie und Losgelöstheit von geltenden Regeln und Strukturen verleiht der Musik von Rojin Sharafi eine schier politische Komponente. Im Bruch mit gängigen Hierarchien sieht die Künstlerin selbst einen politischen Aspekt in ihrem Schaffen: „Ich entwerte zum Beispiel die Hierarchien zwischen einzelnen musikalischen Elementen, sodass die Beziehung zwischen Rhythmus, Melodie und Harmonie völlig neu zu denken ist”, sagt sie. Wovon sich Sharafi ebenso freizumachen versuchte wie von allgemeingültigen musikalischen Grundordnungen oder Genregrenzen, war lange Zeit die Erwartung an sie als weibliche, iranische Künstlerin, politisch arbeiten zu müssen.

Visionen einer Zukunft
Sharafi sagt: „Als Künstler:innen sind wir ein Teil der Gesellschaft und in bestimmten Zeiten ist es meiner Ansicht nach wichtig, das Publikum direkt anzusprechen.“ Doch im Grunde sei doch fast alles irgendwie politisch, ergänzt sie und hält kurz inne – auch die Liebe. Man muss schon extrem privilegiert sein, wenn Politik keine große Rolle im Leben spielt.“ Heute arbeitet sie mit diesen Gefühlen. Denkt sie an ihr Heimatland, empfinde sie eine tiefe Melancholie, sagt Sharafi. Dennoch sei Iran ein Teil ihres Lebens, aber eben in einer anderen und positiveren Form. Denn es gibt ein Ventil für diese Schwere: ihr Bandprojekt HUUUM. „Die Musik gibt mir die Möglichkeit, dass ich von dieser Melancholie wegkomme.“
Sharafi gründete HUUUM mit Omid Darvish und Álvaro Collao Leon als Live-Projekt. Ausgangspunkt sind verschiedene, über die Jahrhunderte weitervermittelte Lieder unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen des ethnisch hochgradig diversen Landes, die zu Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen gesungen wurden. Dem geht, wie auch Sharafis eigenen Produktionen, viel Recherche voraus. Auf dem selbstbetitelten Debütalbum knüpft Darvish etwa an kurdische Musikformen an, mit denen er aufwuchs, genauso jedoch sind darauf belutschische Einflüsse und Worte zu hören, die im alten Teheraner Dialekt gesungen werden. Die drei Musiker:innen reproduzieren all das aber nicht, sondern nehmen es als Grundlage für ausgedehnte Experimente. „Bei HUUUM geht es um die Grenze zwischen Originalität und Weiterdenken”, sagt Sharafi.
Die geografische Distanz des in Wien ansässigen Trios spielt dabei ebenfalls eine Rolle. „Wie kann man von einem anderen Ort aus Volksmusik für die Zukunft oder für die Gegenwart neu denken?“, formuliert die Elektronikmusikerin die Leitfrage des Projekts. Die Beschäftigung mit den verschiedenen musikalischen Traditionen habe sie zum Nachdenken angeregt, betont sie außerdem. „Für mich ist das mit Hoffnung verbunden.“ Denn historisch betrachtet habe das zugrundeliegende musikalische Material düstere Zeiten überlebt, Zeiten des Krieges oder Zeiten der Trauer etwa. Gerade deshalb vermittle die Musik auch viele Emotionen – ein für Sharafi spannendes Merkmal. Gleichzeitig habe Folklore immer auch eine soziale Funktion, weil sie die Menschen zusammenbringt. Das sei der eigentlich hoffnungsvolle Aspekt, sagt Sharafi. Die Musik von HUUUM richtet den Blick deshalb in die Zukunft – auch das ist für Sharafi eine entscheidende Komponente.
Individuelle Begehren und Community
Durch HUUUM setzt sich Sharafi auch mit ihrer Position als iranischstämmige Musikerin in der Diaspora auseinander. Sie beschreibt ihre Situation als „dislocated timeless Folklore“ („entortete, zeitlose Folklore“): ein Zustand, der auf bessere Zeiten hoffen lässt, aber auch eine Verbindung zu ihrer Heimat Iran herstellt. Im Iran und mit all den extremen Alltagsproblemen vor Ort sei es schwer, Visionen zu haben. Neue zu entwerfen und Ideen einer Gemeinschaft zu entwickeln, sagt Sharafi, sei deshalb die Aufgabe der Diaspora. „Wie können wir uns eine Zukunft vorstellen?“ Wobei sie betont, dass dies kein Alleinstellungsmerkmal des Irans sein, „dislocated timeless Folklore“ gibt es vielerorts.
Um „Community“, das Zusammenbringen beziehungsweise Zusammenkommen von Menschen, geht es auch im Signature Piece von Rojin Sharafi für die Monheim Triennale, ein von Sharafi komponiertes Stück, für das sie mit mit interdisziplinären Künstler:innen wie Lichtdesigner:innen zusammenarbeitet sowie vier Musiker:innen. Ihr Stück beschreibt Sharafi so: “In einer nichtlinearen Zeit – irgendwo zwischen Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft –, fragmentiert, durchkreuzt, traumhaft, unbewusst, getrieben von Wunsch, Bedürfnis und Sehnsucht, fließt die Geschichte. Auch hier arbeitet die Künstlerin wieder mit Gegensätzen. Ihre Komposition gleiche einer “surrealen Erzählung mit Wesen aus verschiedenen Welten”, die persönliche und kollektive Wunden, Erinnerungen und Feiern manifestiere.
Sharafis Interesse an zeitloser Folklore (Folkmusik, die nicht in der Vergangenheit verankert ist, sondern zeitlos existiert – sie kann auch digital, experimentell oder multilayered sein), Bräuchen und Zeremonien zieht sich dementsprechend auch durch dieses Stück. „Folklore ist eine Musik, die mit der Zeit immer weiterentwickelt wurde, die die Menschen über eine lange Zeit begleitet hat, viele Geschichten erzählt und viele Emotionen in sich trägt“, erklärt sie. „Mich interessiert zum Beispiel das Konzept von Polymetrik, das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher Metren in den verschiedenen Stimmen eines Musikstücks, das oft in bestimmten westafrikanischen und indischen Musikkulturen zu finden ist”, sagt Sharafi. „Ich arbeite mit Patterns, die unterschiedlich lang sind und manchmal aufeinandertreffen und dann wieder weiterlaufen.“
Das Spiel mit musikalischen Elementen wie Mikrotonalität, Polyrhythmik und Polymetrik prägten bereits Sharafis bisheriges Schaffen und wurden von ihr auf ihren bisherigen Alben ebenso wie bei HUUUM immer wieder in neue Beziehungen zueinander gesetzt. In ihrem Signature Piece gesellt sich dazu ein neuerlicher Fokus auf Performance und Storytelling, der an ihre Arbeit mit und ihr Interesse für Darstellende Kunst und Literatur anknüpft. Als zentrales Thema und narratives Kernelement des Stücks nennt sie „das Wechselspiel von individuellen Begehren mit zeremonieller Kollektivität“. Dabei gehe es darum, wie sich der oder die Einzelne und ihre Bedürfnisse innerhalb einer Gesellschaft positionieren. Der Storytelling-Charakter spiegelt sich in der Wiederkehr von narrativ eingesetzten Sound-Elementen ebenso wider wie im erneuten Einsatz von Spoken-Word-Elementen, die bereits ihr früheres Werk kennzeichnen.
Das Projekt stellt damit zugleich einen Rückgriff in ihre eigene Vergangenheit als Live-Musikerin dar: Der Fokus soll auf der Kohärenz des gesamten Stücks liegen, nicht auf seinen Einzelteilen. „Als ich angefangen habe, Musik zu machen, war es extrem wichtig für mich, dass die Tracks nicht austauschbar sind, sondern dass ich ein Set spiele, das in sich stimmig ist“, erklärt Sharafi. In der Arbeit am Monheim-Signature-Piece sieht sie die Möglichkeit, sich von dieser Denkweise wieder zu befreien. „Das Set soll zwar mehrere Teile haben, die in ihrer Logik jedoch aufeinander aufbauen.“ Sharafi denkt ihr Signature Piece deshalb als Dramaturgie, die die Hörer:innen wie bei einem Theaterbesuch durch das Stück leitet. So erzählt sie damit Geschichten – von Community, von Bedürfnissen, vom Allein- und Zusammensein in einer Welt, die keine Grenzen mehr kennt.