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Peter Evans:
„Die Lehrer haben gesagt, ich würde an einer Tankstelle enden.“
Julian Brimmers
Mit Peter Evans ist es leicht, gemeinsam den Faden zu verlieren. Ganz so wie bei seinen Solo-Konzerten, feuern die Synapsen des Trompeters aus allen Rohren, wenn das Gespräch den richtigen Ton trifft. Sein Gedankenstrom ist ansteckend. Und es gibt viel zu besprechen.

Nur wenige haben sich der Auslotung eines Instruments so verschrieben wie Evans. Der über 2000 Jahre alten Geschichte der Trompete nähert sich der Mittvierziger mit einer Neugier und Demut, die ihn immer neue Pfade und Potenziale entdecken lässt. Auf seinem Weg hat Evans Grenzen überschritten und Brücken gebaut: zwischen Genres und Musikepochen, zwischen der Avantgarde und dem globalen Underground. 

Kurz vor unserem Gespräch ist er in Brüssel mit Craig Taborns Quartett samt Orchester aufgetreten. Als Grenzgänger zwischen Jazz, Klassik und verschiedenen subkulturellen Strömungen ist Evans seit Jahrzehnten regelmäßig in Europa unterwegs. Köln, gewissermaßen Monheims Nachbarstadt, hat einen besonderen Platz in seinem Herzen. Als das WDR Sinfonieorchester 2001 jemanden für ein nahezu unspielbares Trompetenkonzert der Komponistin Lucia Dlugoszewski suchte, wusste sie genau, wen sie anrufen mussten. Mehr muss man nicht wissen über Evans’ technische Fähigkeiten und seinen herausragenden Ruf. 

Angesprochen auf die Ähnlichkeiten in den Stadtbildern von Brüssel und Köln, in denen alte Häuser, nackter Beton und Nachkriegsbauten ein bizarres Puzzle ergeben, gewährt Evans einen Einblick in seine ganz eigene Ästhetik: „In Köln habt ihr all diese Überreste der alten Römer herumliegen. Große Felsen mitten auf der Straße, inmitten der brutalistischen Nachkriegsarchitektur, die ich so liebe. Ich stehe da und schaue mir eine halbe Stunde lang einen Parkplatz an. Mir gibt das was.“

Es ist dieses aufrichtige Staunen, das Evans’ Auftritte mit Bands wie Being & Becoming, seine Quartette, Quintette und Trios, seine Sideman-Gigs und Solosets beim Publikum hervorrufen. Jede Note ist durchdringend und technisch präzise. Doch in seiner Essenz leitet Evans Gruppenmeditationen über die Kraft des Klanges selbst. Er legt den Kern dessen frei, was Musik, wie Albert Ayler es ausdrückte, zur „heilenden Kraft des Universums“ macht.

Peter, du bist letztes Jahr mehrfach beim The Prequel der Monheim Triennale aufgetreten. Erinnerst du dch noch, was du alles gemacht hast? 

Ich habe solo in der Kirche gespielt. Und ich bin zusammen mit Heiner Goebbels auf dem Schiff aufgetreten, der Hauptbühne des Festivals. Ich kannte Heiner ein bisschen von früher. Er würde sich nicht an mich erinnern, aber ich habe ihn vor etwa zehn Jahren bei einer großen Opernproduktion in New York kennengelernt, für ein Stück von Louis Andriessen namens „De Materie“. 

Heiner Goebbels hat den Ruf, sehr akribisch zu sein. 

Aber gleichzeitig auch ziemlich abgefahren. Im College bin ich auf diese ECM-Platte namens „Der Mann im Fahrstuhl“ gestoßen. George Lewis ist mit drauf und noch einige andere coole Improvisatoren. Heiner Goebbels bewegt sich ständig zwischen verschiedenen Genres und Welten. Ich habe mich sehr gefreut, seinen Namen im Programm vom The Prequel der Monheim Triennale zu sehen.

Bei deinem Soloauftritt in Monheim war die Kirche vollgepackt. Die Performance war fordernd, aber das Publikum äußerst aufmerksam. Wie lange brauchst du selbst, um in diesen Versenkungszustand zu kommen? Gibt es eine Latenzzeit zwischen dem ersten „Hallo” und der völligen Konzentration?

Im Idealfall nicht. Nach all den Jahren weiß ich, dass die Hingabe für das Programm wichtiger ist, als alles andere. Man muss sich das Vertrauen des Publikums verdienen. Wenn man sieht, dass der Künstler konzentriert ist und das Ergebnis Energie hat und eine bestimmte Intention verfolgt, dann sollte das reichen. 

Wie hat dieser Prozess bei dir begonnen? 

Ich habe angefangen, solo zu spielen, als ich am Konservatorium in Oberlin, Ohio war. Dort habe ich mich in den Neue-Musik-Kreisen getummelt, aber auch im Jazz-Department. Und dann habe ich die Geschichte der AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) und der europäischen Improvisatoren kennengelernt – alles Leute, die auch solo gespielt haben. Evan Parker, Anthony Braxton, John Zorn, John Butcher… Damals waren das alles nur Namen für mich, körperlose Klänge auf CD. Mit 21 bin ich nach New York gezogen und kannte niemanden. Aber sobald ich jemanden traf, der irgendwo seltsame Gigs organisierte, kamen wir sofort ins Gespräch. 

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Als aktiver Teil einer Nischenszene, sieht man immer schnell die interessantesten Teile der Stadt. 

Ja, solche Gigs machst du eben nicht im Jazzclub. Vor allem, wenn dich niemand kennt. Wir nannten das DIY-Gigs. Einer davon war in einer Saftbar in SOHO, in der wir nach Ladenschluss aufgetreten sind. Draußen sind Damen in Stöckelschuhen vor den Glasfenstern herumgelaufen und haben durch die Glasfront geschaut wie im Zoo… Death By Audio war auch ein großartiger DIY-Ort, aber leider mittlerweile geschlossen. Oder das Zebulon, etwas größer und jazziger. Der Cake Shop war eher ein Rock’n’Roll-Keller. An solchen Orten lernt man, wie man ein Publikum auf seine Seite zieht. Leute trinken, es wird viel gesprochen, andere Bands sind laut… So bekommt man ein dickes Fell und man lernt, mit dem Publikum auf verschiedene Arten zu kommunizieren. Stand-Up Comedians berichten von ähnlichen Erfahrungen. Wir alle spielen nach den Regeln des gleichen seltsamen Spiels.

Dass die meisten Orte, an denen Evans sein Handwerk erlernt hat, nicht mehr existieren, zeigt: „dieses seltsame Spiel“ besteht auch darin, Chancen für sich selbst zu schaffen. Die Stand-up-Comedians, die Evans erwähnt, können ein Lied davon singen, ebenso von dieser beinahe unlernbaren Sensibilität für das Publikum. Evans spricht von „einem sechsten Sinn für die Frequenz eines Raums, einer nonverbalen Art der Kommunikation. Some pheromonal shit.” Patrice O’Neal, die verstorbene Comedy-Ikone, sei damit gesegnet gewesen. Generell eint Solo-Instrumentalisten und Stand-Up-Comedians, dass sie ihre Kunst substantiell nur vor einem Publikum entwickeln können. Doch während Comedians ihren Fortschritt anhand der Lacher messen, ist es bei einer erfolgreichen Musik-Performance oft totenstill. „Wenn du krampfhaft nach akustischen Signalen suchst”, sagt Evans, „dann wird es schwierig. Stille kann ja auch bedeuten, dass die Leute voll bei dir sind. Auf der anderen Seite: Ich habe mal einen Solo-Gig in China vor 500, 600 Leuten gespielt. Alle um die 20 Jahre oder jünger. Je verrückter, je seltsamer die Musik war, desto lauter wurden sie.” 

Dieser Hang zur „verrückten, seltsamen” Seite der Musik – die in Evans Fall beide Seiten des Spektrums abdeckt, von der flüchtigen bis zur völligen Überforderung – ist für das Verständnis seines Gesamtwerks zentral. Man könnte annehmen, dass sein Geburtsort Chicago etwas damit zu tun hat. Immerhin war die Windy City die Wiege des Creative Jazz und der AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians), wo Visionäre wie das Art Ensemble of Chicago die improvisierte Musik seit Jahrzehnten auf den Kopf stellen. 

„Wir sind aus Chicago weggezogen, als ich drei war. Aber meine Eltern waren Jazz-Fans. So bin auch ich mit der Musik in Kontakt gekommen“, erklärt er. „In den 70er und 80er Jahren haben meine Eltern Konzerte von Dexter Gordon und Earl Hines besucht. Wynton Marsalis war ein großes Ding. Miles kam gerade aus seiner Pause zurück, also sahen sie ihn auch ein paar Mal. Mein Vater hatte Anfang der 80er Jahre bereits ziemlich früh einen CD-Player. Ich habe das alles sehr geliebt.“

Wie lange hat es gedauert, bis du dein Hauptinstrument gefunden hast? Abgesehen von der Trompete spielst du auch ein wenig Klavier, oder? 

Ein bisschen, ja. Früher war ich besser. Die Trompete habe ich sofort gemocht. Ich habe mit sieben Jahren angefangen. Den ersten Frust hatte ich mit acht oder neun. Meiner Mutter habe ich gesagt: „Ich höre auf. Ich will das nicht mehr machen.“ Meine Mutter hat nur gelacht. „Du wirst nicht aufhören. Lass den Quatsch.“ Ich war kein Wunderkind, aber ich hatte schon eine Begabung.

Wie gehst du als mittlerweile selbst Lehrender damit um, wenn Du auf ungeschliffenes Talent triffst?

Bei meinem letzten Lehrprojekt am Oberlin College waren die Studierenden sehr darauf fixiert, ihre eigene Identität zu formen und ihre Stimme zu finden. Das passiert aber hoffentlich von alleine. 

Ich hätte ihnen gern gesagt, dass sie sich darauf konzentrieren sollen, einfach gute Musiker zu sein. Nicht bloß gute Jazzmusiker. Ich meine damit nicht nur das reine Handwerk, das Technische, sondern das Selbstverständnis. Den Wunsch, verschiedene Arten von Musik kennenzulernen. Ein professioneller Dilettant zu sein. Dies zu vermitteln, wäre ein gutes Ziel einer Musikschulausbildung.

Aber egal wo ich hingehe, alles ist in verschiedene Abteilungen unterteilt: Jazz, Klassik, elektronische Musik, experimentelle Improvisation… Es gibt keine natürliche Interaktion. Ich selbst war immer neugierig auf verschiedene Spielweisen und habe versucht, Musiker aus anderen Genres kennenzulernen. Das Gefühl, irgendwo dazuzugehören, hatte ich eh nicht. 

Bist du mit deinem Interesse an den verschiedenen Genres und Stilen auch auf Ablehnung gestoßen?

Ja, bei bestimmten Leute schon. Ich hatte immer mit älteren Musikern und Lehrern zu tun, die sehr hohe technische Standards einforderten. Besonders in der Klassik hatte ich Lehrer, die mir sagten, ich verschwendete meine Zeit und würde eines Tages an der Tankstelle arbeiten. So haben dir die Leute früher gedroht, „du wirst einem normalen Job nachgehen.“ {lacht}. Ich dachte nur: „Hey, ich versuche grade, etwas Unmögliches auf diesem Instrument zu machen. Kannst du mich bitte in Ruhe lassen?“ Karrieretechnisch schien die Klassik auch keine sichere Bank zu sein. Für mich war es unmöglich, diese Weg weiter zu verfolgen, wo mein Kopf doch bereits von Milford-Graves-Platten komplett umgekrempelt worden war …

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Es scheint, als hättest du heute eine Situation geschaffen, aus der du in jede erdenkliche Richtung gehen kannst. Egal, welcher Band oder welchem Projekt du dich verschreibst, die Leute vertrauen dir. Das wirft uns zurück auf den Anfang des Gesprächs: Vertrauen muss man sich erspielen… 

Danke. Ich bemühe mich. Aber es ist lustig, dass Sie das so sehen, denn gerade im letzten Jahr, war es für mich besonders schwer, kreativ zu sein. Es war schmerzhaft. 

Erst kürzlich hatte ich einen Durchbruch, als ich darüber nachdachte. Manchmal kommt man in einen konstanten Rhythmus. Dann nimmt man den Schaffensprozess als selbstverständlich hin. Man ist wie eine gut geölte Maschine, nicht wahr? Wenn es aber kompliziert wird, wird man wütend. „Warum funktioniert das nicht?“ Aber genau darin liegt der Sinn: man muss akzeptieren, wenn die Dinge nicht glatt laufen. Dass du dich in einer anderen Phase deiner Entwicklung befindest. Die Zeiten, in denen die wirklich interessante Dinge passierten, sind selten die einfachsten.

Stichwort: neue Methoden und Wege. Eine Besonderheit, gerade bei deinen Solos, ist das bewusste Spiel mit hörbaren Atmern oder den Klickgeräuschen des Instruments. Diese werden bei dir zu rhythmischen, stilisierten Elementen. 

Ich fand das immer schon großartig. Ich suche auch bewusst nach solchen Aufnahmen bei anderen. Paulo Pandolfo, zum Beispiel, ein Gamba-Spieler und Spezialist für Alte Musik. Bei seinen Solo-Gamba-Aufnahmen steht das Mikrofon extrem nah. Man hört das Quietschen der Saiten und das knarrende Holz. Es fühlt sich an, als wäre man im Innern eines Schiffs.

Ich liebe es, die Mechanik der Flöte zu hören, oder die Tastes des Klaviers. Beinahe als Kontrapunkt zu den Tönen. Ich höre viel Alte Musik, vor allem Vokalisten. Es ist ein beinahe psychedelisches Gefühl, wenn sich im Gehör die Konsonanten, die Phoneme von den verlängerten Vokalen trennen, und sich das „S“ und „T“ und „F“ im stereophonen Raum ausbreitet. Am Ende mag ich einfach Klang. Und als ich realisiert habe, dass ich diese Klänge, die beim Spielen entstehen, nicht verstecken konnte, habe ich sie bewusst eingesetzt. Manchmal habe ich ein Mikro direkt neben meinen Kopf. Und manchmal schicke ich das dann sogar noch durch einen Subwoofer.

Welches Niveau an technischer Finesse muss man erreichen, bevor man zu experimentieren beginnt?

Die Technik ist das eine. Also, die Fähigkeit, dein Instrument zu bedienen. Aber es gibt auch noch die Musikalität, die ich als eine Form der Technik betrachten würde. Musikalität bedeutet, ein gutes Ohren zu haben, ein Gefühl für die Musik. Nicht bloß gute Intonation, auch ein gutes Rhythmusgefühl. Das sind absolute Basis-Dinge, natürlich.

Meine Musikalität zu erweitern, das ist die Grenze, die ich auslote. Im Moment übe ich mit einem Buch aus dem 16. Jahrhundert. Das ist ein italienisches Buch über Ornamente für Blockflötenspieler. Der Autor beschreibt jede Möglichkeit, einen einzelnen Ton zu verzieren. Das kann ein Ganzton, eine Terz, eine Quarte sein, und dazu gibt es eine systematisierte Methode, nach der die Ornamente funktionieren. Ich wusste nicht, dass man so etwas im 16. Jahrhundert gemacht hat! 

Ich übe immer noch ständig und man ist nie wirklich damit fertig. Aber ich sitze nicht herum und versuche, immer virtuosere Techniken zu entwickeln. Ich weiß ganz gut, was ich tue, und versuche, mein Spiel auf andere Weise zu verfeinern.

Neben den musikhistorischen Einflüssen schreiben viele deiner Musik spirituelle und ritualistische Qualitäten zu. 

Ehrlich gesagt habe ich immer gedacht, dass das ein Aspekt von Musik im Allgemeinen ist. Der Ehemann einer Freundin, ein experimenteller Kernphysiker, hat mal gesagt: „Musik hat eine sehr niedrige Eintrittsbarriere zu etwas sehr Tiefgehendem.“ Bei experimenteller Physik hingegen kannst du dich nicht einmal darüber unterhalten, bevor du ein bestimmtes Verständnis erreichst. Musik bietet also einen freundlichen und niedrigschwelligen Zugang zu einem vage religiösen Raum, einer spirituellen Praxis. 

Ich selbst war aber nie religiös, trotz meiner katholischen Erziehung. Ich fand die Musik schrecklich. Der allgemeine Vibe war relativ cool und unheimlich. Die Akustik in der Kirche war auch gut. Aber sobald ich wirklich verstand, was da vor sich ging, war ich überhaupt nicht mehr interessiert.

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Als musikalischer Grenzgänger, wie ist deine Beziehung zum Kanon und zur Idee der Kanonisierung? Ich denke zum Beispiel an dein Album „Standards“. Ist es für dich immer noch eine Herausforderung, in Musik, die so sehr in den Köpfen verankert ist, etwas Spannendes zu finden?

In jedem Fall. Diese Platte ist zum Beispiel einfach passiert. Während COVID sind Sam, ein großartiger Pianist aus dem Kölner Raum, und ich ins Studio gegangen. Er war damals Student in Lissabon. Unsere Version von „Embraceable You“ war meine Hauptmotivation für das Projekt. Vielleicht werden wir bei der Monheim-Show etwas Ähnliches machen.

Aber was die Kanonisierung betrifft: Jazzhörer und Jazzmusiker sind Detail-Nerds. Auch Klassik- oder Pop-Fans wissen, wer die erste Geige im Konzert oder die zweite Gitarre bei Ozzy Osbourne gespielt hat… Sobald man ein wenig tiefer in einen Teil der Musikgeschichte eintaucht, sieht man, wie komplex und miteinander verwoben alles ist.

Ich bin daher etwas allergisch gegen die Idee, Szenen und Communitys zu identifizieren. Letzte Woche haben wir genau über dieses Thema gesprochen. Minimalism zum Beispiel: Es gab viele andere interessante Komponisten in dieser Strömung, nicht nur Steve Reich und Philip Glass. Leute wie John Gibson, den Holzbläser, und sogar La Monte Young, die eine ganz andere Karriere hatten.

Einen Kanon muss man von Fall zu Fall bewerten. Geht es um einen Bereich, den ich gar nicht kenne, dann werde ich wahrscheinlich erstmal direkt zu den bekanntesten Dingen greifen. Aber leider haben die Musikschulen den Kanon über eine ziemlich kleine Anzahl von Künstlern gestülpt. Die wenigsten Menschen bekommen wirklich mit, was es da draußen alles gegeben hat.

Nach The Prequel ist vor The Festival. Kannst du schon etwas über ihre geplante Show bei der Monheim Triennale verraten? 

Mir wurde gesagt, ich solle groß denken. Und das habe ich gemacht {lacht}. Ich wollte einer Band, die sich wirklich gut kennt, etwas Neues hinzufügen. Am Ende wurde daraus mein persönliches Dream Team. Der Kern ist meine Band Being & Becoming, für die wir Tyshawn Sorey an den Drums gewinnen konnten. Dazu kommen noch drei Sängerinnen. Die erste ist Sofia Jernberg aus Schweden. Mit ihr war ich vor ein paar Jahren auf Duo-Tour. 2022 hat sie mich nach Monheim mitgenommen, um Duke Ellington und Billy Strayhorn-Stücke für sie und das Streichorchester zu arrangieren.

Dann haben wir Alice Tessier, eine Flötistin und klassische Sängerin. Ich kenne Alice aus dem Bereich der Neuen Musik, aber ich habe sie in den letzten Jahren immer mehr in meinen kleinen Kosmos bringen können. Und dann natürlich noch Mazz Swift aus Queens, New York. Eine unglaubliche Geigerin und Sängerin. Das ist ein wirklich einzigartiges Trio von Sängerinnen, die gleichzeitig auch Multi-Instrumentalistinnen sind.

Für das Stück, das ich schreibe, kehre ich momentan immer wieder zur Struktur einer Bach-Kantate zurück. Reiner Michalke (Leiter der Monheim Triennale) hatte die Idee, das Stück in zwei Parts zu unterteilen. Zwei 35-minütige Aufführungen, die alle Mitglieder der Gruppe auf unterschiedliche Weisen präsentieren. Und das wird aufregend. Ich habe noch nie so viel mit Text gearbeitet. Die Struktur und die Bedeutung des Stücks werden sich mir beim Schreiben offenbaren. Aber ich kann es mir schon vorstellen, ich höre es schon. Ich denke, das fasst meinen Prozess gut zusammen: Ich habe ein großes Bild vor mir und verfeinere es dann bis ins Detail.