

Music ex Patria
Wie und wo man sich durch Köln bewegt, bestimmt die Rheinmetropole auf unnachahmliche Weise durch ihre (städte-)baulichen Besonderheiten: Zwei, eigentlich sogar vier Ringstraßen, eine kompakte Innenstadt, Kulturstätten in Clustern, meist bestimmt Enge die Szenerie, Weitläufigkeit sucht man vergeblich. Wenn man gemeinsame Interessen hat, wie z.B. Jazz und improvisierte Musik, läuft man sich im Prinzip ständig in die Arme. Dank der Musikhochschule (an der Barnett seit 2019 Professorin für Jazz ist), dem Westdeutschen Rundfunk, engagierten Club- und Konzerthausbetreiber:innen und der typisch kölschen Offenheit für das Gute und Künstlerische blüht die Jazzszene seit jeher und immer wieder auf, ist überraschend groß und doch gerade klein genug, um nicht zu zerfasern. Wer etwa an das letzte Jahrzehnt zurückdenkt, hat wenig Probleme, Köln in die Reihe der großen Jazzmetropolen wie London oder Amsterdam einzuordnen. Shannon Barnett selbst ist ein Paradebeispiel für die florierende Szene: Sie kam direkt aus New York nach Köln, um in der hiesigen WDR-Bigband Posaune zu spielen. Da gehörte sie längst zu den wichtigsten „jungen Stimmen“ des Jazz weltweit.
Trifft man sich indes öfter im und am Rande des Geschehens, kommen schnell andere, nichtmusikalische Themen auf den Tisch. So unterhalten wir uns beim Festivalteil The Prequel der Monheim Triennale nicht über Musik, konkret nicht über das soeben erlebte großartige Solokonzert des Trompeters Peter Evans, sondern über den Sport in Australien. „Man muss wissen“, erzählt Barnett, „dass die Engländer bei ihrer Kolonisierung der Erde überall seltsame Sportarten hinterlassen haben, die man außerhalb des Commonwealth ignoriert.“ Dazu gehören nicht nur Cricket oder die australische Football-Variante Aussie Rules, sondern auch Korbball (englisch: Netball), den man sich grob als „Basketball ohne Dribbling“ vorstellen kann. Barnett spielt Korbball - und das ist insofern wichtig, als ihre australische Identität hier, im Sport, Heimat findet.
Eine Australierin in Köln
Wenngleich man Australien als ein Land mit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschieden zu Mitteleuropa betrachte, seien die kulturellen Unterschiede doch deutlich, erzählt Barnett. Als sie 2009 von Melbourne nach New York zog, sei der Übergang spielerisch gewesen, als sie vier Jahre später nach Köln kam, habe sie eine längere Eingewöhnungsphase gebraucht. Wie unterschiedlich hier alles gehandhabt wird, zeigte sich schon beim Probespiel für ihr Engagement bei der WDR-Big Band: „Als ich mich vorbereitete, machte man mich darauf aufmerksam, dass man in Deutschland den Kammerton A mit 442 Hz spielt und nicht wie in Australien mit 440 Hz.“ Typisch, sagt sie, es seien immer die kleinen Unterschiede, die sie bis heute verwirren. Gerade deshalb brauche sie ihre Rückzugsorte; in Ermangelung australischer Bars ist das in ihrem Fall Netball.
Dennoch ist Barnetts langjähriger Aufenthalt in Deutschland und speziell in Köln eine Erfolgsgeschichte. Die Australierin ist eine der imposantesten und wichtigsten Posaunist:innen der weltweiten Jazz- und Improvisationsszene, Alben wie „Bad Lover“ oder „Hype“ ihres Quartetts wurden hoch gelobt. Im Jahr 2020 gewann Barnett den WDR Jazzpreis in der Kategorie Improvisation und 2022 den Deutschen Jazzpreis (Kategorie: Blechblasinstrumente). Sie kann aus einem großen Repertoire an Techniken und Phrasierungen schöpfen und ist aufgrund ihrer Variabilität und gleichzeitig sehr charakteristischen Spielfarbe eine gefragte Kollaborateurin, Sidewoman und Bandmember.

Die europäischen Gepflogenheiten hätten sie anfangs trotzdem verunsichert. Das Vorsprechen beim WDR, das dank der schnellen Umstellung auf den hiesigen Kammerton erfolgreich verlief, offenbarte Barnett einen anderen, neuen Blick auf den eigenen Beruf: „Das ist ein ernsthafter Job, und so wird er auch angegangen. In New York oder Melbourne ging man nach der Probe noch feiern, hier direkt nach Hause. Diese Professionalität hat natürlich viele Vorteile - soziale Absicherung, gute Gagen.“ Lange Zeit, erzählt sie weiter, habe sie sich von dieser Strenge auch einschüchtern lassen. Ihre Kunst habe darunter gelitten. „Ich meine, wenn man jeden Tag aufnimmt, mit immer neuen Gästen, wenn man immer wieder probt und jede Woche neues Material bekommt“, resümiert Barnett, „dann hat das zwei Effekte: Auf der einen Seite motiviert es, sich technisch zu perfektionieren; auf der anderen Seite hat man keine Zeit und keinen headspace, um die eigene Kreativität und Projekte voranzutreiben.“
Sie selbst sei auf Dauer einfach zu sensibel für einen solchen Zugang zur Musik, meint sie. So dauerte das Engagement vier Jahre - und Barnett nutzte die Zeit zum Reflektieren: Was will sie eigentlich musikalisch erreichen? Was sie wieder zurück in ihr Geburtsland führte.
Wo ist Zuhause, Mama?
Ursprünglich wollte sie im Musikprogramm ihrer Highschool ein cooles Instrument wie Klarinette lernen, doch die Band hatte schon Klarinettist:innen, und so drückte man ihr eine Posaune in die Hand. Diese glückliche Fügung der Geschichte fühlte sich zunächst nicht wie eine an: „Ich fand das Instrument viel zu laut - und auch nicht passend für mich als schüchternen Menschen.“ Noch am selben Abend überwog die Faszination. Sie spielte am Zug, sie übte gerade Töne zu produzieren und besorgte sich die Noten für die Titelmelodie der Muppet Show – es war schnell um sie geschehen. Die Schulband wurde von einem Improvisator geleitet, was ihren Zugang zur Musik nachhaltig prägte, denn er stellte die Improvisation in den Mittelpunkt seines Unterrichts. Später zog es Barnett nach Melbourne, und auch dort erwies sich die Szene nicht als hermetisch, engstirnig oder eindimensional, im Gegenteil: „An einem Abend spielst du Salsa, am nächsten als Sidewoman in einem Quartett, dann Big Band, Solo … quer durch alle Stile.“ Es ist diese Offenheit, die ihr phasenweise in Deutschland abhandengekommen ist, die Barnett vermisst hat.

„In Melbourne und New York gibt es keine festgefahrene Vorstellung davon, was man als Musikerin und insbesondere als Instrumentalistin machen kann. Man hat nicht das Gefühl, dass man etwas falsch machen kann, wenn man etwas ausprobiert.“ So herrscht dort oft ein größerer Formenreichtum und eine Freiheit, die Experimente zulässt. Ein Beispiel dafür ist die Musikerin Aurora Nealand, mit der sie seit dieser Zeit in ständigem Austausch steht. So hat Barnett sie 2023 als Gast zur Cologne Jazzweek eingeladen. Nicht minder einflussreich ist David Helm, der in Barnetts Band (Kontra-)Bass spielt, iner der aufstrebenden Bassisten Kölns ist und nebenbei mehrere Projekte betreibt, die sich (wenn überhaupt) an den Rändern des Jazz bewegen. Als Marek Johnson taucht er auf mittlerweile zwei Alben in die Welt der Singer-Songwriter ein. „Eine wirklich wichtige Inspiration“, nennt Barnett diesen Wildwuchs an Formen, an musikalischen Zugangsweisen, ohne Scheuklappen.
Zu sich finden
In gewisser Weise ist „How Much is the Moon?“, das neue und aktuelle Album, das als Grundlage für das Monheim Triennale Signature Projekt dient, das Ergebnis einer Suche nach sich selbst. Hier kulminieren etliche Gedanken der letzten Jahre, aber auch Bekanntschaften und Freundschaften, Beziehungen; dazu gesellt sich die nachgerade existenzielle Frage, was überhaupt „Zuhause sein“ bedeutet. Was ist ein Zuhause, was ist Heimat, auch eine musikalische Heimat?
Dafür kann es keine einfachen Antworten geben und Barnett versucht sich auf der LP folglich nicht an Slogans, Dogmen oder Maximen. Stattdessen stellt „How Much is the Moon?“ eine leidenschaftliche Selbstbeobachtung dar. Für diese reiste sie in den letzten Jahren gleich mehrfach nach Australien; auf diesen Reisen ist ihr vieles bewusst und bewusster geworden: „Diese Idee die beste Jazzposaunistin der Welt zu sein, die verfolge ich nicht.“ Sie habe sich von dem Druck, auch von dem Druck auf sich selbst langsam befreien können: „Das hat natürlich auch etwas mit meiner Professur an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln zu tun – und mit der finanziellen Absicherung, die damit einhergeht. Aber das ist nur die eine Seite. Ich bin mutiger geworden. Ich muss es niemandem mehr beweisen“, erzählt sie. In Australien sei vor allen Dingen James Gilligan, der das Album aufgenommen hat, ein wichtiger Faktor und Einfluss gewesen. „Es gibt in Australien und gerade auch bei James nicht die Einstellung, die Dinge zu zerdenken. Stattdessen macht man, worauf man Lust hat – und das Ergebnis fühlt sich viel besser an.“
Signature-Projekt: Was kostet der Mond?
Dafür wurde dann die Posaune weggelegt und Barnett singt auf „How Much is the Moon?“ erstmalig auf allen Stücken, wo sie ehedem nur sporadisch ihre Stimme präsentiert hat. Auch für das Songwriting zeichnet sie sich verantwortlich. Dabei lassen sich gleich mehrere Referenzen ausmachen: Der Titeltrack, zugleich Opener der LP, versprüht den Charme von US-amerikanischen Indiefolk der 2000er, mit Bands und Künstler:innen aus Omaha und dem Mittleren Westen. Die Gitarre, die mit ihrem Picking dem Stück seinen Rhythmus leiht, treibt wie eine Eisenbahn durch das Stück, links schieben sich Fiddle und Westerngitarren in das Kleinod, das Schlagzeug hallt durch die Prärie. Die acht Stücke springen fidel von dieser Bluegrass-Countresken weiter zur Rhodes-Piano-Ballade („Burning Alive“), hier kreuzt man Chamber Pop, im letzten Stück „Schubert’s Grave“ verbindet Barnett das Theatrale und das Intime zu einem popistischen Kleinod. Keine Posaune, kein Jazz, dafür erstmalig in voller Ausführlichkeit die Stimme Barnetts, die sich hier vulnerabel wie nie zeigt: „James hat ein Enviroment geschaffen, in dem ich mich öffnen konnte – und machen konnte, was ich schon lange wollte: Ein Album, das von Songwriter:innen wie Regina Spektor, Rufus Wainwright und Joni Mitchell beeinflusst ist.“

Von den genannten US-amerikanischen und kanadischen Musiker:innen lässt sich im Anschluss ein weites Netz aufspannen, in dem sich auch so illustre Gestalten wie Randy Newman oder der Neo-Vaudeville-Sänger Tom Waits befinden. Beide waren, so Barnett eine wichtige Inspirationsquelle für das Album; das Stück „Downtown Train“ ist ein Tom Waits-Cover. Hat Waits mit seiner eigenwilligen Interpretation von New Orleans-Jazz der vorletzten Jahrhundertwende den Ton der Platte mitgestaltet? „Das stimmt. Eine interessante Beobachtung, die man weiterspinnen kann, denn mit fällt noch eine weitere wichtige Band ein: Die australische Gruppe The Hoodangers. Die Band war für meine Generation sehr wichtig.“ Das Jazz- (oder wie sie es selbst nennen: Inner city acoustic folk-punk-)Kollektiv war in seiner stets zelebrierten Formenvielfalt eine stilprägende – und auch Shannon Barnett-prägende – Band.
Bei der diesjährigen Monheim Triennale werden die ganzen Fäden, die zum Album „How Much is the Moon?“ geführt haben, wieder zusammengeführt, aber auch erweitert, denn Shannon Barnett konnte das EOS Kammerorchester für den Auftritt gewinnen. Susanne Blumenthal, die 2008 Orchester gründete, und Hendrika Entzian, die seit 2024 die künstlerische Leitung hat, sind seit langen Jahren Wegbegleiterinnen von Barnett. Sie hat mehrfach in Entzians Gruppe Hendrika Entzian+ gespielt.
Der orchestrale Ansatz ist für Barnett kein Widerspruch zur Intimität des Albums, sondern eine willkommene Erweiterung, immerhin „haben wir mit unseren Mitteln und den wenigen Instrumenten versucht, eine orchestrale Breite zu simulieren und zu rekreieren.“ Entzian bringe das richtige Maß an Empathie mit, um den Sound der LP auf ein neues Level zu bringen.
„Es war für mich keine konzeptuelle Frage. Es hat sich einfach richtig angefühlt.“ Ob diese neuen Entscheidungsfreiheiten ihr ein heimisches Gefühl vermitteln und geben, frage ich sie zum Ende unseres Gesprächs, das mal bei Korbball und australischen Sportarten – und der Sehnsucht nach vertrauten Orten – begonnen hat. Shannon Barnett denkt kurz nach, schaut kurz in die Kölner Nachmittagssonne hoch und lacht: „Ja, vielleicht. Manchmal zumindest.“