
Fragmentierte Realität und neue Formen des Überlebens
Ich habe das Vergnügen, Muqata’a schon seit einiger Zeit persönlich zu kennen; wir haben in den letzten Jahren viele intensive Gespräche geführt. Seit unserem letzten Treffen bei The Prequel in Monheim im Jahr 2024 hatten wir jedoch nicht viele Gelegenheiten, uns richtig auszutauschen – also knüpften wir unser Gespräch an diesem überraschend warmen Berliner Apriltag dort wieder an.
Muqata’a: „Die Monheim Triennale 2024 – The Prequel – war eine sehr interessante Erfahrung für mich, weil ich die Gelegenheit hatte, viele großartige Musiker:innen kennenzulernen und mit ihnen zu spielen. Obwohl es eigentlich nicht so mein Ding ist, einfach in solche Jam-Sessions geworfen zu werden, hat alles erstaunlich gut geklappt. Ich glaube, das lag am hohen Niveau der Musiker:innen – grundsätzlich klang einfach alles gut. Es herrschte eine Art automatische Chemie auf der Bühne. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber ich selbst habe mit niemandem geprobt – wir haben uns überhaupt nicht eingespielt. Wir gingen einfach auf die Bühne und haben losgelegt. Ich muss zugeben, am Anfang war ich nervös, aber dann hat es richtig Spaß gemacht. Und es war schön, mit Leuten in Kontakt zu kommen, die einen ganz anderen musikalischen Hintergrund haben.“
Nach The Prequel nahm er das Angebot an, zusammen mit der Filmemacherin Fairouz Hasan im vergangenen Dezember für rund drei Wochen die Künstlerresidenz in Monheim zu nutzen, um ein ganz neues gemeinsames Projekt zu beginnen.
Muqata’a: „Ursprünglich war das gar nicht als meine Signature-Performance geplant, aber gegen Ende der Residenz wurden wir gefragt, ob wir das Projekt als Performance präsentieren wollten. Obwohl wir das Gefühl hatten, noch nicht wirklich bereit zu sein, entschieden wir uns, etwas Kurzes auszuprobieren. Der Auftritt war etwa 18 Minuten lang. Die Situation hat uns dazu gebracht, all diese Elemente und Ideen zusammenzubringen und zu versuchen, etwas Vorzeigbares daraus zu machen. Wir hatten viel Film- und Tonmaterial, und ein großer Teil der Performance war improvisiert – aber wir fanden, dass es ziemlich gut geklappt hat. [Textumbruch]Wir mussten hart daran arbeiten, aber es war unser erster gemeinsamer Auftritt. Für Fairouz war es die erste Live-Performance mit Video. Sie ist es gewohnt, in der Postproduktion und Regie zu arbeiten und ist normalerweise eher im Studio tätig. Es war also für uns beide eine neue Erfahrung – und weil wir beide das Gefühl hatten, dass es gut gelaufen war, beschlossen wir, weiter zusammenzuarbeiten. So wurde es zu meinem Signature-Projekt.“
Unvollkommene Rekonstruktion
Seine Kollegin Fairouz Hasan ist ein junges Talent aus Bethlehem in Palästina. Leider konnte ich ihre erste Performance in Monheim im vergangenen Dezember nicht miterleben, also bat ich Muqata’a, mir ihre künstlerische Praxis zu beschreiben.
Muqata‘a: „Fairouz ist eine Filmemacherin, die sich vor allem auf Kurzfilme konzentriert. In ihren Arbeiten geht es oft um die Probleme von Palästinenser:innen in israelischen Gefängnissen, und sie bewegt sich experimentell im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Non-Fiktion.
Sie verwendet mikroskopische Bilder, um das Zerbrochene zu rekonstruieren und bereits Zerbrochenes wieder zusammenzufügen. Für sie ist das ein Weg, diesen Prozess und die dahinterliegenden Ursachen zu verstehen. Das lässt sich natürlich auch auf unsere politische und soziale Realität in Palästina übertragen: Die Idee, dass Dinge zerbrochen sind und dass es immer einen Prozess des Wiederaufbaus gibt. Und die Frage, was das bedeutet und welche psychologischen Auswirkungen dieser Prozess hat.[Textumbruch]Sie arbeitet viel mit konservierten toten Insekten. Zum Beispiel nimmt sie gebrochene Flügel und versucht, sie unter dem Mikroskop wieder zusammenzusetzen und filmt ihren Versuch das Unreparierbare zu reparieren, ohne wirklich ein konkretes Ergebnis zu erwarten, und in diesem Prozess stecken zu bleiben.
Ihre Aufmerksamkeit für Details und mikroskopische Bilder passt auch zu meiner klanglichen Arbeit, zu meinem Fokus auf Mikrogeräusche. Und wie die Dinge immer wieder auseinanderbrechen, nicht völlig starr und quantisiert an ihrem Platz stehen. Auch in meiner Arbeit gibt es immer Aspekte des Hinkens oder Zerbrochenseins, die in dem Versuch stecken bleiben, irgendwie wieder zusammengesetzt zu werden – aber nie an einem perfekten Punkt. Das hat viel mit den Konzepten zu tun, mit denen ich früher schon gearbeitet habe. Wie zum Beispiel mein aktuelles Album “Kamil Manqus“ (“كَامِل مَنْقوص“), was „ganze Unvollkommenheit“ oder „perfekte Unvollkommenheit“ bedeutet. Diese Idee gefiel uns sehr gut und wir bauten unsere Performance auf diesem Konzept auf.“
Obwohl noch in Arbeit, erklärt er, dass die Performance, die sie bei der Monheim Triennale 2025 zeigen werden, nicht einfach eine Fortsetzung dessen sein wird, was sie im vergangenen Dezember entwickelt haben.
Muqata‘a: „Es wird etwas völlig anderes sein. Musikalisch wird es deutlich weniger beat-orientiert oder strukturiert sein. Es wird fragmentierter sein, mit vielen kleinen Klängen, Klicks und Glitches. Gleichzeitig wird es aber auch jede Menge Subbässe geben. Man kann sich das vorstellen wie ein Bett aus Bass, das winzige, aber scharfe Klänge trägt. Und visuell wird es viele mikroskopische Bilder geben. Außerdem kommt viel Archivmaterial zum Einsatz. Es gibt viele Aufnahmen, die unterwegs zwischen verschiedenen Orten in Palästina entstanden sind. Zum Beispiel Landschaften, die man aus dem Auto sieht, während man von einer Stadt in die nächste fährt – sie zeigen, wie fragmentiert Palästina als geografischer Raum ist, wie sehr alles voneinander abgeschnitten ist und wie alles ganz allgemein kaputt ist.[Textumbruch]Diese Bilder werden kombiniert mit mikroskopischen Aufnahmen zerstörter Insektenkörper – von Schmetterlingen oder Libellen etwa – und der geografischen Beschaffenheit Palästinas selbst.“
Fragmentierte Realität
Angesichts des gegenwärtigen historischen und extremen Moments für Palästina ist es nicht schwer nachzuvollziehen, wie herausfordernd es für sie ist, unter solchen Bedingungen als Künstler:innen zu arbeiten – in jeglicher Hinsicht. Ich habe mich gefragt, ob sie unter diesen Umständen das Bedürfnis verspüren, ihre Perspektive in ihren Werken zu präsentieren – oder ob das in allem, was sie tun, ohnehin ganz natürlich mitschwingt.
Muqata‘a: „Ich denke, was du gesagt hast, trifft in gewisser Weise zu, ja, es geht definitiv um den Ort, an dem wir uns befinden, nämlich Palästina. Das ist im Grunde unsere Perspektive. Das Land ist geografisch so zerstückelt durch den Siedler-Kolonialstaat Israel, und das beeinflusst die Art, wie man alles sieht, wie man sich bewegt, wie man komponiert, wie man filmt. Selbst während des Filmens muss man oft die Kamera ausschalten, weil man sich sonst in Gefahr bringen könnte. Auch das führt zu Fragmentierung. Der Akt des Sammelns von Elementen für eine Performance wird immer wieder von der kolonialen Realität Palästinas unterbrochen. Überall gibt es Kontrollpunkte. Da ist die Mauer, die den Blick auf das, was man filmt, stört. Sie verändert den Blick auf die Natur, auf das Land. Das thematisieren wir hier, aber auf abstrakte Weise.[Textumbruch]Wir verwenden Aufnahmen aus syrischen Filmen, aus irakischen Filmen, wir verwenden Soundsamples von verschiedenen Regionen. Also nicht nur aus Palästina, aber wir haben Aufnahmen aus Palästina, Feldaufnahmen aus Palästina, um unsere Gefühle auszudrücken, um sie durch unsere Linse zu zeigen. Und wir versuchen, mit verschiedenen Einflüssen neue Narrative zu schaffen. Hier kommt auch das Sampling von Archiv-Videomaterial ins Spiel. Und wir versuchen, unsere Sichtweise und unsere Gefühle zu diesen Dingen künstlerisch auszudrücken.“
Aufgezwungene Ungewissheiten
Die physische Trennung von der Heimat oder von Familienmitgliedern, Freund;innen oder Kolleg:innen scheint auch für palästinensische Künstler:innen eine ständige Herausforderung zu sein. Die Realität der Besatzung stellt enorme und unvorstellbare Hürden dar, die ansonsten einfache Aktivitäten wie Verabredungen treffen, Termine planen oder von einer Stadt in eine andere reisen erschweren.
Muqata‘a: „Selbst wenn ich in Palästina bin, leben wir in verschiedenen Städten. Ramallah und Bethlehem liegen geografisch sehr nah beieinander, nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Aber um nach Bethlehem zu gelangen, muss man durch Jerusalem. Mit meinem Westjordanland-Ausweis darf ich aber nicht durch Jerusalem fahren. Also muss ich Jerusalem umfahren, durch eine andere Stadt und über eine andere Schnellstraße. So brauche ich etwa zwei Stunden, um nach Bethlehem zu kommen, obwohl es eigentlich nur rund 20 Minuten sein sollten. Unterwegs gibt es mehrere Kontrollpunkte. Man weiß nie, was einen erwartet. Mal sind sie geschlossen, mal nicht. Manchmal ist es ruhig, manchmal sehr angespannt. Manchmal eskaliert es. Und auch wenn es ganz ruhig aussieht, weiß man nie, was passieren kann. Manchmal darf man durch, manchmal wird man ohne Grund zwei Stunden an einem Checkpoint aufgehalten. Es gibt nie einen Grund. Jedes Mal ist es anders. [Textumbruch]Es ist genau dieses Gefühl der Unberechenbarkeit, das wir immer haben, dass wir nie wissen, was auf uns zukommt. Man weiß nie, wie lange es dauern wird. Ich kann meine Zeit und die Zeit der anderen nie wirklich planen. Wenn ich einen Termin ausmache und sage, „Ich bin um 14 Uhr da“, muss ich um 9 Uhr losfahren, um pünktlich da zu sein – obwohl es eigentlich höchstens eine oder zwei Stunden dauern sollte. Diese Unberechenbarkeit ist, glaube ich, ein psychologischer Zustand, in den man uns versetzt – in den uns Israel als Kolonialmacht versetzt. Sie versetzen uns immer in diesen Zustand, in dem nichts gewiss ist. Dieses Gefühl, nie Gewissheit zu haben. Das gilt auch für die palästinensischen Gefangenen. Viele von ihnen haben keine feste Haftzeit, so dass die Familie eines Gefangenen ständig auf deren Freilassung warten. Dann heißt es: In drei Monaten ist der Gerichtstermin. Und dann wird er verschoben. Man denkt, in zwei Wochen kommt ein Familienmitglied frei und dann vergehen drei Monate. Es gibt keine Sicherheit, nichts ist gewiss. [Textumbruch]Ich denke, dieser ganze Aspekt der Fragmentierung und Unberechenbarkeit spiegelt sich auch in unserer Arbeit wider, in den Rhythmen, Klängen und Bildern, aus denen unsere Performance besteht.“
Konsolidierung als Ganzes
Muqata’as kontinuierliche künstlerische Weiterentwicklung ist bemerkenswert – aber auch nicht ungewöhnlich für viele Künstler:innen aus derselben Szene – der experimentellen HipHop-Community von Ramallah – die als MCs, Produzenten und DJs in verschiedenen Genres tätig sind. Im Fall von Muqata’a hat er nach der Veröffentlichung seines Solo-Rap-Albums fast vollständig mit dem Rappen aufgehört und sich auf das Produzieren von Beats konzentriert. Wie entscheidet er sich zwischen diesen verschiedenen Ausdrucksformen – und welche Möglichkeiten sieht er in jeder von ihnen?
Muqata‘a: „Für mich ging es nie darum, mich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Es ging mehr darum, wo ich mich in diesem Moment sah. Ja, ich habe seit Jahren nicht mehr gerappt – seit ich „Hayawan Nateq“ (“حيوان ناط“ , 2013) veröffentlicht habe, das ein reines Rap-Album war. Als ich angefangen habe, Musik zu machen, habe ich nur Beats produziert. Dann habe ich angefangen zu rappen, weil ich keine Rapper gefunden habe, die auf meine Beats rappen konnten. Es gab einfach so viel zu sagen. Damals wohnte ich noch bei meinen Eltern, und unsere Wohnung war von israelischen Panzern umgeben. Ich hatte das Gefühl, dass es so viel mehr zu sagen gibt, als reine Instrumentalmusik ausdrücken kann. Also fing ich an zu schreiben und nach etwa einem Jahr des Nachdenkens begann ich zu rappen. So hat es bei mir angefangen.
Irgendwann, Jahre später, entschied ich mich, zu dem zurückzukehren, wofür ich mit der Musik angefangen hatte – also konzentrierte ich mich wieder mehr auf die Produktion. Und in dieser Zeit, etwa von 2011 bis 2014, war ich auch Teil einer Gruppe namens Tashweesh, zusammen mit Basel (Abbas) und Ruanne (Abou-Rahme). Zusammen haben wir diese klang- und bildbasierte Performance-Gruppe gegründet, mit der wir zwei oder drei Jahre lang auf Tournee waren. Nach der Veröffentlichung meines HipHop/Rap-Albums habe ich mich wieder mehr auf meine Rap-Sachen konzentriert und bin als MC aufgetreten. Das Projekt ist dann nach und nach in den Hintergrund gerückt, weil wir alle sehr mit unseren Soloarbeiten beschäftigt waren. Später haben wir noch ein paar Shows gespielt, aber mit der Zeit hat sich die Gruppe immer mehr aufgelöst. Aber ich habe schon vorher in Performances mit visuellen Elementen gearbeitet.

Für mich geht es weniger darum, dass es ein neues Projekt ist – sondern vielmehr darum, mit dieser bestimmten Person zusammenzuarbeiten, mit Fairouz, und mit den konzeptuellen Ideen dahinter. Für mich ist es also nicht so, dass ich etwas Neues ausprobiere. Es ist eher so: ‘Wir wollen zusammenarbeiten’. [Textumbruch]Ich arbeite weiterhin mit Rapper:innen zusammen und auch an meinen Soloprojekten. Außerdem schreibe ich wieder viel (Rap-Texte). Ich plane, bald neues Material zu veröffentlichen, auf dem ich selbst rappe – auf meinen eigenen Produktionen, aber auch auf Produktionen von anderen. Ich habe das Gefühl, dass ich gerade in einer Phase bin, in der ich alles, was ich vorher getrennt habe, wieder zusammenfüge. Ich habe aufgehört, es als getrennte Dinge und Projekte zu sehen. Ich rappe, ich produziere, ich arbeite mit visuellen Künstler:innen, ich arbeite mit anderen Rapper:innen – einfach alles zusammen. Ich mache Ambient-Musik. Ich mache laute, glitchige Musik. Ich mache klassische HipHop-Tracks. All das zusammen macht mich aus.“
Bilna’es und neue Formen des Überlebens
Eine weitere kreative Tätigkeit, der er sich seit einigen Jahren widmet, ist Bilna’es – nicht nur ein Plattenlabel, sondern offenbar auch eine Plattform für Printmedien. Ich habe ihn gebeten, mir die Idee dahinter und die Bedeutung für seine künstlerische Praxis zu erklären.
[Embed] https://bilnaes.bandcamp.com/music
Muqata‘a: „Bilna’es bedeutet ‚im Negativen’. Es ist eine interdisziplinäre Plattform – zumindest sehen wir es so. Sie entstand aus der Idee heraus, sich gegenseitig zu unterstützen und Ressourcen zu teilen. Eine Gruppe von uns palästinensischen Künstler:innen hat beschlossen, diese Plattform ins Leben zu rufen, weil wir das Gefühl hatten, dass viele der Künstler:innen, die wir kennen, nicht über die Ressourcen verfügen, zu denen wir schließlich Zugang gefunden haben. Ganz einfach, weil wir das schon lange machen und das Gefühl hatten, dass wir diese Ressourcen teilen wollten. Wir wollten Künstler:innen aus Palästina und darüber hinaus unterstützen, und die Idee entstand zu Beginn der Pandemie. Viele der Künstler:innen – liebe Freunde und Freundinnen aus unserer Community, die beeindruckende Werke geschaffen haben – standen kurz davor, ihre künstlerische Tätigkeit aufzugeben, weil sie sich finanziell nicht mehr über Wasser halten konnten. Die Pandemie machte alles noch schwieriger.
Aus dieser Situation heraus entstand die Idee. Wir dachten, dass es das Beste wäre, diese Community aufzubauen und unsere Ressourcen zu teilen, um ein Support-System zu schaffen und Künstler:innen zu fördern, die ihre Werke noch nicht veröffentlicht hatten, obwohl sie kurz davor standen. Das war zu einer Zeit, als sich unsere Szene in Palästina in einer Phase befand, in der sich vieles anbahnte. Und dann kam die Pandemie. Das war ein schlechtes Timing für unsere Szene. Wir haben versucht, einige Künstler:innen dazu zu bringen, ihr erstes Album zu veröffentlichen. Wir haben versucht, sie mit verschiedenen Methoden zu pushen, wie zum Beispiel PR, wir haben auch interaktive Webprojekte, Buchveröffentlichungen und Installationen mit verschiedenen Künstler:innen gemacht. Und wir arbeiten so, dass wir den Status quo ablehnen. Unser Ansatz ist im Kern antikolonial – und er lebt vom gemeinsamen, kollektiven Handeln. Und das ist auch Teil der Grundidee, neue Narrative zu schaffen und auf neue Weise mit dem umzugehen, was mit uns passiert. Denn das, was wir alle bisher gemacht haben, funktioniert offensichtlich nicht. Es ist ein Versuch, neue Wege zu gehen, die Dinge anders zu sehen, neue ökonomische Formen für Kunst, Musik und Bücher zu finden – ein Versuch, neue Methoden zu entwickeln, um zu überleben und sich selbst zu erhalten.“
Arbeiten und Performances in Zeiten extremer Gewalt
Es ist eine herausfordernde Zeit für alle, aber besonders für performende Musiker:innen, und ganz besonders für jene aus betroffenen Regionen. Die physische Bedrohung und die Einschränkungen durch die globale Pandemie waren eine Sache, aber anhaltende staatliche Gewalt dieses Ausmaßes über einen so langen Zeitraum in Echtzeit zu erleben, ist eine völlig neue Situation. Viele Künstler:innen aus Palästina oder den benachbarten Regionen haben seit dem 7. Oktober 2023 aufgehört, aufzutreten oder Musik zu machen, darunter auch Muqata’a. Während der Horror weitergeht und sich die Situation vor Ort von Tag zu Tag verschlechtert, fangen viele wieder an, sich künstlerisch auszudrücken. Was waren die größten Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten, und wie haben sie ihre Motivation wiedergefunden?
Muqata‘a: „Vor allem fehlt einfach die Zeit, die Kapazität und die Energie, um an der Performance zu arbeiten. Bei all dem, was gerade in Palästina passiert, ist es unglaublich schwer, sich mental auf ein Projekt einzulassen und daran zu arbeiten. Während der Residency haben wir uns wirklich gepusht, etwas zu schaffen. Und die Residency war dabei tatsächlich sehr hilfreich, weil wir so wenigstens etwas Energie aufbringen konnten, um an einer Performance zu arbeiten. Grundsätzlich ist es im Moment extrem schwierig, überhaupt etwas zu schaffen. Das ist die größte Herausforderung. An einem Tag hat man vielleicht ein bisschen Energie und sagt: ‚Okay, morgen treffen wir uns um soundso viel Uhr und machen das und das‘, und am nächsten Tag fühlt man sich ganz anders.[Textumbruch]Das ist eine Depression. Eine schwere Depression lastet auf uns, und es ist sehr schwierig, während eines Genozids zu arbeiten. Ich weiß nicht einmal, ob wir während eines Genozids arbeiten sollten. Es gibt viele Fragen, die beantwortet werden müssen, aber dies ist eine, die uns immer wieder beschäftigt hat: Was drücken wir aus? Worüber sprechen wir? Sollen wir uns überhaupt äußern? Ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, sich durch Kunst auszudrücken? Manchmal haben wir das Gefühl, dass es so ist, und manchmal haben wir das Gefühl, dass es nicht so ist. Dieses Hin und Her, diese Achterbahnfahrt, in der sich unser Geist ständig befindet, macht es sehr schwierig, etwas zu schaffen und tatsächlich ein Projekt zu haben, das man präsentieren kann. [Textumbruch]Die Medien berichten weniger darüber, aber es geht weiter. Der Völkermord geht weiter. Er eskaliert sogar. Aber es wird weniger darüber gesprochen. Und das macht es noch schlimmer, noch erschreckender. Es ist deprimierend und bringt einen in eine schwierigere Situation, aber ich habe mich bewusst dazu gezwungen, es einfach als eine technische Sache zu sehen, als eine Übung. Meine Beziehung zur Musik hat sich dadurch verändert. Und die Art und Weise, wie ich mit Musik arbeite, fühlt sich jetzt an, als würde ich neu entdecken, was Musik bedeutet, warum ich Musik mache und was ihr Zweck ist. Was macht dieses Stück aufgenommener Klang in dieser Welt? Was bedeutet es überhaupt? All diese Fragen, die ich mir die ganze Zeit gestellt habe, haben in mir das dringende Bedürfnis geweckt, Antworten zu finden.
Und da habe ich endlich akzeptiert, dass ich wieder auftreten kann.[Textumbruch]Mich wieder auf diese herausfordernde Situation einzulassen, die außerhalb meiner neuen Komfortzone liegt. Es ist kompliziert. Es ist ein sehr vielschichtiger Umgang mit dem, was ich in Bezug auf Musik empfinde. Ich glaube, ich habe mich selbst in diese unangenehme Situation gebracht, um diese Fragen überhaupt beantworten zu können. Und ich habe sie immer noch nicht beantwortet, und ich kämpfe immer noch damit, etwas zu kreieren und zu produzieren – aber ich versuche, mich mehr auf diesen Prozess einzulassen. [Textumbruch]Es hat lange gedauert, bis ich diesen Punkt erreicht habe, und ich bin immer noch dabei, zu verstehen, was ich tue. Meine eigene Praxis neu zu verstehen. Das war intensiv, ein sehr intensiver Prozess, weil ich das mein ganzes Leben lang gemacht habe, seit meiner Kindheit. Und jetzt alles neu überdenken zu müssen, ist keine leichte Aufgabe.“
Sinn und Rolle der Musik
Ich persönlich finde es schwierig, einen Sinn darin zu sehen, ein Musikfestival oder eine andere Musikveranstaltung zu organisieren, während nicht nur in Gaza, sondern in verschiedenen Teilen der Welt Massaker und massive Zerstörungen stattfinden und man sich oft ohnmächtig und hoffnungslos fühlt. Musik kann in Zeiten des Friedens eine verbindende Kraft sein und Unterschiede überbrücken, aber es hat sich gezeigt, dass sie dies in Zeiten großer Spaltung nicht kann. Wir alle erleben etwas Unumkehrbares – doch für die Künstler:innen aus Palästina ist die Auswirkung davon ungleich größer.
Muqata‘a: „Ich dachte, ich hätte verstanden, warum ich das alles mache. Ich dachte, ich hätte meine Rolle und meine Position verstanden. Aber zu sehen, wie alles, was man zu wissen glaubte, so schnell und auf diese Weise zusammenbricht … Und ich würde das nicht auf die Palästinenser:innen beschränken. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen auf der ganzen Welt den Sinn für viele Dinge verloren haben. Systeme, die sie für sinnvoll hielten, die so strukturiert und vielschichtig waren, dass sie als gegeben hingenommen wurden. Aber jetzt brechen sie zusammen. [Textumbruch]Auch meine Sicht auf Musik, wie ich die Musik-Community sehe, die globale Musikszene, die Idee von Festivals, von Veranstaltungsorten, von Veranstaltern… all das hat sich verändert. Die Vorstellung, von wem wir abhängig sind, die Vorstellung, in allem eurozentrisch zu sein und Teil einer ‚globalen Szene‘ – ich habe das Gefühl, dass all das dekonstruiert und neu gedacht werden muss, aus anderen Blickwinkeln betrachtet werden muss. [Textumbruch]Und die Art und Weise, wie wir die Welt die ganze Zeit durch eine europäische Brille gesehen haben, ist zerbrochen. Diese Brille ist zerbrochen. Es ist Zeit für eine neue Sprache. Es ist Zeit für neue Arbeitsweisen, neue Kooperationen, neue Verbindungen in der Welt. Also in Bezug darauf, wo ich mich als Künstler sehe, wo ich sein will, wo ich nicht sein will, mit wem ich zusammenarbeiten will und mit wem nicht. Nicht nur musikalisch und persönlich, wie ich es vorhin beschrieben habe, sondern auch in Bezug auf externe Engagements, die neu definiert werden müssen.“
Wir tappen noch im Dunkeln, wie es weitergehen soll, aber ich wollte wissen, nachdem er sich all diese entscheidenden Fragen noch einmal gestellt hat, wie er die Rolle von Künstler:innen sieht und was Musik in Zeiten wie diesen leisten kann.
Muqata‘a: „Vielleicht habe ich diese Frage schon indirekt beantwortet, weil ich das, was Musik kann, darin sehe, was Musiker:innen tun können und wo sie sich positionieren. Wie Musiker:innen sich präsentieren und das vertreten können, woran sie glauben. Durch neue Kollaborationen und neue Formen der Kommunikation innerhalb der Szenen kann Musik zumindest ihre Welt verändern. Und die Veränderung der eigenen Welt kann sich auf andere Welten, andere Communities auswirken, denn es gibt doch eine globale Musik-Community, oder? Es gibt sie, und es gibt Verbindungen zwischen ihnen, und sie sind irgendwie miteinander verwoben, und sie arbeiten zusammen.
Was da zwischen ihnen aufgebaut wird, ist also sehr wichtig. Es könnte auf starken Prinzipien beruhen. Es sollte nicht nur ein klanglicher oder musikalischer Austausch sein. Es sollte darüber hinausgehen. Es sollte um Politik gehen, um ethische Werte, um Methoden und Wege, Dinge anders zu machen. Ich glaube nicht unbedingt, dass Musik an sich die Welt verändern kann. Aber Musiker:innen in ihren Communities können zeigen, wie es im Kleinen aussehen könnte, und so einen Kern des Wandels schaffen. Denn Künstler:innen inspirieren Menschen im Allgemeinen. Wenn Menschen sehen können, was Künstler:innen tun, kann diese Inspiration auf andere Communities übertragen werden.“