

Signature / No Signature
Doch beginnen wir kurz formal: Heiner Goebbels, geboren am 17. August 1952 im rheinland-pfälzischen Neustadt an der Weinstraße, arbeitet als Komponist, Musiker, Hörspielautor, Theatermacher – und realisiert Klang- und Videoinstallationen. Seine Arbeiten sind geprägt von einer immensen Neugierde für Wahrnehmungsbrüche und Neues, sie sind in ihrem aufwühlenden Wesen provokant ohne es darauf anzulegen, dramatisch, ja fesselnd, reich an Referenzen aus den unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen, definitiv konfrontierend und fordernd, aber zugleich hoch emotional und gezeichnet von einer unprätentiösen Liebe zum Menschen und Leben.
Heiner Goebbels gilt dank seines umfangreichen Werkkatalogs als einer der wichtigsten Vertreter:innen der zeitgenössischen Musik- und Theaterszene. Von 2012 bis 2104 verantwortete er die Ruhrtriennale als künstlerischer Leiter.
„Der Flügel macht, was er will“
So sehr Heiner Goebbels in seinen Arbeiten das Unvorhergesehene sucht, schätzt er doch einen Ablaufplan. Und so stehen wir an diesem Tag im April 2024 vor unserem öffentlichen Gesprächskonzert im Garten der Villa am Greisbachsee, Künstlerresidenz der Monheim Triennale, um eine grobe Dramaturgie für die kommende Stunde zu besprechen. Der Frühling ist seit einigen Tagen auf angenehme Weise präsent, so dass man schon fast versucht ist, sich vom See zum Baden hinreißen zu lassen.
Im Spätherbst 2023 haben wir uns ein erstes Mal im Café Zum Goldenen Hans in Monheim am Rhein getroffen, damals ohne Publikum (für einen Filmbeitrag der Monheim Triennale), um über grundlegende inhaltliche und ästhetische Kategorien in seinem Werk zu sprechen. Heute soll es nun primär um seine musikalische Sozialisation und Biographie gehen, immer wieder unterbrochen durch kurze Klavierstücke.

„Ich bin in einem sehr musikalischen Elternhaus aufgewachsen. Hier wurde viel klassische Musik gehört“, beginnt Heiner Goebbels unsere gemeinsame Zeitreise in die 60er Jahre. „Meine Mutter hat gesungen. Mein Vater spielte sehr gut Klavier ‚vom Blatt‘. Letzteres habe ich von ihm übernommen, da ich üben nicht mag.“
Das Klavier war das erste Instrument von Heiner Goebbels, aber aufgewachsen als jüngster von drei Brüdern, musste er bald auch Cello erlernen – der älteste Bruder spielte Violine, der zweite Klavier –, um das familieninterne Klaviertrio komplett zu machen. Den klassischen Klavierunterricht bekam er von einem als sehr „großzügig“ erinnerten Lehrer, der, während sich der Fünfjährige durch die ersten Stücke mogelte, „immer auf dem Sofa im Nachbarraum“ lag und beispielsweise laut „Fis! Fis!“ rief.
Beim Musikstudium sei es ihm zugute gekommen, dass damals ein sozialer, politischer Zeitgeist herrschte, der eine ganz andere Art von Musikhochschule ermöglichte, als man sie heute kennt“, führt Goebbels aus. „Mit Klaus Billing hatte ich zum Beispiel einen Klavierprofessor, der sehr schnell merkte, dass das Üben nicht meine Stärke ist. Die Stücke, die geübt werden mussten, hat er dann an die japanischen Studierenden vergeben. Stattdessen zeigte er mir – was heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist –, wie man den Flügel präpariert. Zusammen haben wir Programme mit Stücken von John Cage, Earle Brown und Hans Werner Henze aufgeführt. Und er hatte einen „Waffenschein“ für seinen Steinway, das heißt, einen Brief, in dem definiert war, was man alles im Flügel machen darf, ohne dem Flügel zu schaden – und den Brief brachte er zu jedem Konzert in die Konzerthallen mit.“
An dieser Stelle unterbricht Heiner Goebbels seine Ausführungen und kommentiert sympathisch, dass er ja sowieso kein besonders toller Pianist geworden sei – weshalb ihn die Anfrage für das Gesprächskonzert auch so „erschrocken“ habe. Eine kokette Aussage, denn die an diesem Tag in der Villa Anwesenden werden zustimmen: Goebbels ist ein enigmatischer Pianist, dem es sofort gelingt, die Zuhörenden mit seinem Spiel in den Bann zu ziehen.
Ich muss in diesem Moment an unser erstes Gespräch vor sechs Monaten zurückdenken, bei dem Heiner Goebbels von seinen langjährigen Erfahrungen als Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen berichtete. „Als ich zu unterrichten begann, hatte ich die Befürchtung, dass die Studierenden merken, dass ich von traditionellen Theaterbegriffen keine Ahnung habe. Ich hätte zum Beispiel kein Referat über Macbeth halten können. Wovon ich Ahnung habe, sind Materialien, mit denen wir dann auch gearbeitet haben.“
Er habe es deswegen immer als „riesiges Privileg’“ empfunden, dass er „eine künstlerische Karriere ohne Plan“ verwirklichen konnte. „Auf all die verschiedenen Positionen habe ich mich nicht beworben, sondern sie wurden mir zugetraut. So wurde ich zunächst Komponist und Theatermacher, später Professor und Intendant. Ich hätte mir das nicht ausdenken können und habe das auch nicht intendiert.“
Die wichtigste Lehre aus den Performative Studies ist für ihn, „den eigenen Ideen zu misstrauen, immer genau hinzuschauen und vielleicht dabei etwas zu entdecken, woran man vorher gar nicht gedacht hat“. Und da ihm das noch nicht genug an ehrlicher Selbstanalyse ist, legt er nach: „Ich habe keine Ideen … in der Regel einen Anfangsmoment, einen Text zum Beispiel, der mich auf irgendeine Weise fasziniert – vielleicht, weil ich ihn nicht verstehe. Und dann komme ich in der Arbeit zu etwas ganz anderem – in Austausch und Zusammenarbeit mit den Performern, oder Kollegen, oder mit der Hilfe des Raums, oder des Materials selbst.“
Im Lehrplan habe man dementsprechend nicht gelernt, wie man Theater oder Oper inszeniert, es sei vielmehr um gemeinsame Recherchen gegangen, „wie ein Theater aussehen könnte, was wir selbst noch nicht gesehen haben.“
Es sind scheinbare Abschweifungen und Detailerinnerungen wie diese, die aus Heiner Goebbels einen so eindringlichen Erzähler machen. Und so springen wir wieder zurück in die 60er Jahre und in das Haus der Familie Goebbels. Da es dort keine Tonbandgeräte oder Kassettenrekorder gab, wurde das Klavier für Heiner Goebbels was er ein „Aufzeichnungsmedium“ nennt. Was immer er hörte, im Radio zum Beispiel ein neues Stück von den Beatles, versuchte er sofort selbst auf dem Klavier nachzuspielen. Richtig gehört: Beatles! Denn Mittwoch abends wurde im Hause Goebbels eine einstündige Klassikpause gewährt, von den Kindern begierig gefüllt mit den Pop-Sendungen von Manfred Sexauer im Radio Luxemburg oder Hans Werres im Hessischen Rundfunk.
Aber es war keine aufgezwungene Liebe zur Klassik, die Begeisterung war von Anfang an echt und stark. Heiner Goebbels erinnert sich an viele Konzerte in der Festhalle in Landau, wo er Ende der 60er und Anfang der 1970er Jahren große Solist:innen und Werke hören konnte, beispielsweise den Geiger David Oistrach, den Pianisten Sviatoslav Richter, den Cellisten Mstislaw Rostropowitsch oder sogar die Berliner Philharmoniker mit dem Dirigenten Herbert von Karajan. „Ich stand für zwei D-Mark oben auf dem Stehplatz, fühlte mich da frei, und konnte immer schauen, was genau vor sich geht“, erinnert er sich. „Warum kommt der Rostropowitsch so spät auf die Bühne und lässt alle warten? Was bedeutet es, wenn die berühmte Pianistin Elly Ney das Publikum als Zugabe „Guten Abend, gute Nacht“ singen lässt? Mich haben die außermusikalischen Sachen immer mindestens genauso interessiert wie die musikalische Präzision. Es ging mir nie nur um die Musik, nach dem Motto: „Jetzt schließe ich die Augen und lasse das auf mich wirken“.
Es ist in der Villa am Greisbachsee greifbar, wie lebhaft Heiner Goebbels diese Begebenheiten erinnert. Passend entschließt er sich das „Italienische Konzert“ von Bach zu spielen, wie vor 60 Jahren bei seinem bis heute einzigen Solo-Klavierkonzert – jetzt aber nur den langsamen Satz, „den Rest bekomme ich heute so nicht mehr hin.“
Für eine Minute spielt er also mit links das Ostinato, eine sich stetig wiederholende, auf und absteigende musikalische Figur, während die Melodie für die rechte Hand so klingt, als sei sie improvisiert. „Der Flügel macht, was er will“, kommentiert er schließlich lachend, als ihm etwas misslingt – fast so, als ob er wirklich denke, wir Zuhörende könnten sein Spiel als nicht gut empfinden.
Goebbels erzählt, dass das Stück von Bach – wie viele Materialien, die biographisch für ihn von Bedeutung sind – später auch eine Rolle in einer Installation von ihm gespielt habe. Die Rede ist von „Stifters Dinge“, einer der erfolgreichsten performativen Installationen von Heiner Goebbels mit bis heute mehr als 300 Aufführungen weltweit, für die er Kompositionen für fünf automatische Klaviere, Wasser, Steine, Holz, Bleche, Nebel, Regen, Eis, einen Text von Adalbert Stifter und Stimmen von Bill Paterson, Claude Levi-Strauss, William S. Burroughs und Malcolm X, sowie Aufnahmen aus Papua-Neuguinea, Lateinamerika und Griechenland verwebt hat. „Es gibt bei „Stifters Dinge“ keine Personen auf der Bühne; die Klaviere machen alle möglichen Geräusche, die Saiten werden angerissen und geschlagen – und dann hört man diesen Satz automatisch von den Klavieren gespielt.“
Als Autor wünscht man sich immer, dass sich die verschiedene Stränge im Werk und den Ausführungen von Künstler:innen stimmig zusammenfügen. Bei Heiner Goebbels muss man sich darüber keine Gedanken machen, die Sozialisation mit klassischer Musik und die Popbegeisterung fügen sich fast zwangsläufig in die eigene künstlerische Biographie ein, wie auch die Grenzen zwischen den Disziplinen und Themenfeldern bei ihm fließend sind.
Koexistenz von Gesellschaften – Improvisation & Kollaboration
Auch wenn Heiner Goebbels sich früh gegen „Virtuosität und Technik“ positionierte, so dauerte es doch bis nach dem Abitur, dass er sich der Improvisation zuwendete. Ausschlaggebend dafür waren einige prägende „Jazz-Erlebnisse“, wie er es nennt, Anfang der 70er Jahre.
1971 fuhr Goebbels mit seinem durch Ferienarbeit erworbenen Führerschein und 2CV zu den Donaueschinger Musiktagen, wo er ein Konzert von Don Cherry hörte, das „lebensverändernde“ Wirkung haben sollte. „Don Cherry saß mit seiner Frau Moki, dem dreijährigen Sohn Eagle-Eye Cherry und einem Hund auf einem Teppich im Vordergrund der Bühne“, beschreibt er sehr greifbar das damalige Setting. „Es fing mit einem indischen Raga an, wobei Don Cherry das Publikum mitsingen ließ. Hinter ihnen im Halbkreis stand die gesamte Phalanx des radikalsten europäischen Free Jazz in einer Reihe: Peter Brötzmann, Willem Breuker, Han Bennink, Manfred Schoof, Buschi Niebergall und viele andere. Dort entfaltete sich plötzlich eine gigantische Virtuosität der wildesten, freien Klänge. Die Spannung zwischen der privaten, familiären Intimität auf der Vorderbühne und der explosiven, destruktiven ‚Öffentlichkeit‘ dahinter, hat mich sehr beeindruckt, und das Nebeneinander dieser Gesellschaftsformen mich auch in einem politischen Sinne motiviert. Es war also eine sehr starke Erfahrung. Für mich wurde dieses Konzert mit dem Titel „Humus“ tatsächlich zu einer Art Humus – für die Entwicklung meiner musikalischen Ästhetik, zum Beispiel wenig später für die Gründung des Linksradikalen Blasorchesters; aber auch für die Inszenierung meiner Kompositionen – wenn das Orchester anders aufgestellt ist und die Musiker:innen auch aufgefordert sind, etwas anderes zu tun, als nur die Noten zu spielen.“
Ich erwähnte es bereits, dass die Fäden der Werke und Inszenierungen sich in den Erzählungen von Heiner Goebbels bestens zusammenfügen. Von „Humus“ geht er dementsprechend nahtlos zu seiner späteren Zusammenarbeit mit Don Cherry im Rahmen des Frankfurter Artrock-Festivals 1987 über, wo er den „Mann im Fahrstuhl“ aufführte. Goebbels erinnert sich an die Uraufführung: „Mit Don Cherry, Fred Frith, Peter Hollinger, George Lewis, Arto Lindsay und Tim Berne konnte ich die improvisierte Musik mit meinem Interesse an einer speziellen Form von Literatur zusammenbringen– in diesem Fall von Heiner Müller. Am Mikrofon war übrigens Peter Hein, Sänger der Band Fehlfarben. Das war zum ersten Mal performativ, ging also in Richtung dessen, was ich später ein ‚szenisches Konzert‘ genannt habe; es gab auch Anflüge eines Bühnenbilds, hat sich also mit Theater verbunden.“

weitere Informationen zu „Der Mann im Fahrstuhl”
Sekunden später sind wir schon wieder im 2CV mit Goebbels unterwegs nach München, wo er im musikalischen Rahmenprogramm der Eröffnung der Olympiade John McLaughlin mit dem Mahavishnu Orchestra erleben durfte. „Meeting of the Spirits“ war das nächste einschneidende frühe Jazz-Erlebnis, das ihn nachhaltig beeinflusste.

Dieses „Treffen der Geister“ ist wörtlich zu nehmen. Freiheit ist für Heiner Goebbels ein künstlerischer Begriff, der kollaborativ konnotiert ist. „Mein Ego ist groß, aber nicht so groß, dass ich denke, ich könnte das alles selber bewerkstelligen. Wenn ich eine Aufgabe gestellt bekomme, die ich alleine lösen muss, bin ich ganz schlecht. Deswegen umgebe ich mich mit einem Team von Leuten, die Vieles besser können als ich.“ Auch um mich von dem Resultat überraschen zu können.
Eigene Realitäten
Ohne den richtigen Ort geht für Heiner Goebbels nichts. Er braucht immer einen Ort, der mitspricht. Selten hat er etwas auf einer Theaterbühne entwickelt, sondern meistens in postindustriellen Räumen, die eine eigene Realität haben. Weswegen er in seiner mittlerweile fünf Jahrzehnte andauernden Karriere alle Aufträge für Opern immer abgelehnt habe – „und davon gab es viele.“
„In einem Opernhaus müsste man zwei Jahre vorher die fertige Partitur abliefern. Aber so zu arbeiten interessiert mich nicht. Musiktheater habe ich immer über zwei Jahre hinweg mit allen Beteiligten entwickelt. Aber die Institutionen sind gezwungen, sich auf etwas zu beziehen, was man vorher schon kennt.“
Dennoch übernahm Heiner Goebbels zwischen 2012 und 2014 die künstlerische Leitung der Ruhrtriennale. Ausschlaggebend sei die völlige künstlerische Freiheit und ökonomische Unabhängigkeit gewesen, die man ihm zugesagt habe, betont er. Voraussetzungen, die er bei allen späteren Angeboten für Festival-Intendanzen, so nie mehr erfüllt sah. „An der Ruhr gab es zwar einen Aufsichtsrat mit Politikern, aber sie haben mir immer den Rücken freigehalten – selbst als es politische Konflikte gab, wie bei einem wichtigen Projekt mit Gregor Schneider“, führt Goebbels aus. So konnte er sich auf die künstlerischen Fragen konzentrieren. Er habe immer versucht, „das Unbequeme, das Experimentelle, das Ungesehene oder das Ungehörte auf die Bühne zu bringen.“
Heiner Goebbels führt weiter aus: „Kunst als Repräsentation interessiert mich nicht. Auch Oper oder Theater interessiert ihn nicht, wenn Figuren ‚so tun als ob‘. Mich interessiert immer die Suche nach einer Realität in dem, was man tut. Nicht die Illustration. Und dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit dem Raum.“
Es geht ihm um etwas, was sich vielleicht mit dem Begriff der Relationen fassen lässt. „Ich suche letztlich nach einer musikalischen Lösung für die Beziehung zwischen unabhängigen Medien, eine Polyphonie der Theatermittel, die nicht hierarchisch geordnet sind: zum Beispiel ein Klang, den wir uns nicht erklären können. Wie wirkt ein Gegenlicht auf uns, das stärker ist, als die Figur, die darin steht? Oder was bedeutet der Tonfall für den Text, der in einer Sprache gesprochen wird, die man nicht versteht? Was passiert, wenn Hören und Sehen nicht zusammengehen…“
„Es gibt keine Zufälle. Generell – und gerade auch in der künstlerischen Arbeit nicht“, sagt Heiner Goebbels einen weiteren dieser Sätze, die nachhallen. „Vieles begegnet mir scheinbar zufällig und lässt sich dann schlüssig in die künstlerische Arbeit einbringen, Wie heißt es bei Brecht? ‚In der Nähe der Fehler liegen die Wirkungen‘“ Aber die Zufälle begegnen mir nur, weil ich für diese Überraschungen jetzt offener geworden bin, sie zulassen kann.“ Und ergänzt: „Früher habe ich mich immer wahnsinnig unter Druck gesetzt, wenn mir nicht rechtzeitig das Richtige eingefallen ist.“ Aber auf solche, eher zufällige Weise wurde sogar der heimische Teekessel zum Protagonisten von „Schwarz auf Weiss“, ein Stück, das 1996 zusammen mit dem Ensemble Modern, entstanden ist und noch immer gespielt wird. „Noch drei Tage vor der Premiere hatte ich den damaligen Intendanten am Theater am Turm in Frankfurt, Tom Stromberg, gefragt, ob wir verschieben könnten… Er sagte zu, da er wusste, dass wir es sowieso nicht verschieben würden. Aber mir hat es sehr gutgetan, dass die Möglichkeit dazu bestand.“

Von The Prequel zum Signature Project
Es ist an der Zeit, um über Heiner Goebbels Pläne für die Monheim Triennale 2025 zu sprechen. Zunächst aber ein kurzer Rückblick auf The Prequel, die Werkstattausgabe 2024, bei der Heiner Goebbels an drei beeindruckenden Duo-Performances mit Brìghde Chaimbeul, Muqata’a und Ganavya Doraiswamy beteiligt war.
Heiner, was ist die erste Erinnerung, die dir in den Kopf kommt, wenn du an das Prequel denkst?
„Ich glaube es ist die Präsenz des Wassers – die trägt wesentlich zur Entspannung bei …”
Trennst du eigentlich in deiner Analyse die einzelnen Auftritte beim Prequel kritisch voneinander ab, oder ist es eher ein Gesamteindruck, den das Festival bei dir hinterlassen hat?
„Letzteres. Es ist der zugewandte, nie konkurrente und immer interessierte Umgang miteinander. Als Jungspund musste ich mir in den 70er Jahren von den älteren improvisierenden Kollegen – ich will jetzt keine Namen nennen – viel Zynismus anhören, so á la „Na Jungs, habt Ihr gut geübt?”
Als wie unterschiedlich / ähnlich hast du dein Spiel in der Kollaboration in den unterschiedlichen Konstellationen wahrgenommen?
„Erst jetzt hatte ich eine Chance die Aufnahmen zu hören. Die drei, vier musikalischen Duos verbindet, dass ich mich zunächst immer als ‚Begleiter‘ verstehe, nie als Solist. Das war schon in den 70er Jahren im Duo mit Alfred Harth so, und in den 80er Jahren bei der Gruppe Cassiber. Ich sehe meine Aufgabe darin, zu strukturieren, zu reagieren, zu unterstützen, zu verändern, verschieben, zuzuspitzen; oder mache kompositorische Vorschläge im Spiel. Ich arbeite mich quasi von den Rändern des Klangs vor. Das funktioniert unterschiedlich gut. Vielleicht war es besonders ausgewogen in dem (kurzen) Duo mit Peter Evans und in der Begegnung mit Muqata’a. In den beiden anderen Konzerten – mit Brìghde und Ganavya – war ich mehr gefordert jeweils auf die Ästhetik zu reagieren, die sie so virtuos entwickelt haben und die ich bewundere. Aufregend fand ich alles und habe diese Herausforderungen und Überraschungen sehr, sehr genossen.”
Du bist nun ja als Musiker schon mehrere Dekaden aktiv und hast viel gesehen und gehört. Gibt es für dich konkrete Orte und Ereignisse, wo du die Monheim Triennale als andockend empfindest?
„Ja, ich denke zum Beispiel an das internationale Festival für Musique Actuelle in Victoriaville, Kanada, zu dem ich in den 80er Jahren mehrmals eingeladen war – und Sun Ra zum ersten Mal erleben konnte: „Come to the Planet, I’ll wait for you…!
Ich denke auch an das Sound-Symposium in St. Johns in Neufundland, das es übrigens auch immer noch gibt, und das – wie Monheim – nah am Wasser gebaut ist. Gordon Monahan hat dort von einem Berg aus ein Klavier ins Meer geworfen, und es gab – wie in Monheim die Kompositionen für die Sirenen – dort eine Symphonie für die Nebelhörner aller Schiffe in der Bucht.
Es sind immer die kleinen Orte, an denen die Musiker und Musikerinnen sich untereinander, aber auch mit dem Publikum in einer besonderen Weise näher kommen können. Ich wünsche der Monheim Triennale also auch mindestens 40 Ausgaben.”
Improvisation hat längere Zeit (ab dem Ende von Cassiber Anfang der 90er Jahre) keine zentrale Bedeutung in der musikalischen Praxis von Goebbels gespielt, da er sich primär Kompositionsaufträgen und Musiktheaterproduktionen zuwendete. „Die Spontaneität, die beim Improvisieren notwendig ist, ist blockiert, sobald ich anfange, mir als Komponist zuzuhören und als Regisseur auch noch zuzuschauen …
Diese Phase hielt bis 2018 an, also fast 25 Jahre. Doch in den letzten Jahren registriert Goebbels wieder ein größeres Improvisationsinteresse bei sich. Initialmomente waren Try-Outs mit Musiker:innen und Tänzer:innen für ein kollaboratives Projekt, die zu einer Ensemblegründung führten und in der Performance „Everything That Happened and Would Happen“ mündeten, aufgeführt unter anderen beim Manchester International Festival, in der Armory in New York, bei der Ruhrtriennale und den Salzburger Festspielen. Demnächst dieses Jahr in Taipei und Paris.
Goebbels merkte, dass ihm Improvisation gefehlt hatte – wobei er davon spricht, dass sie eigentlich nur verschoben wurde, vom Klavier hin zum Kompositionsprozess (zum Beispiel Improvisation mit verschiedenen Orchesterregistern und Klängen) und in der szenischen Arbeit zur Improvisation mit den wichtigsten Arbeitsmitteln wie Licht, Raum, Objekte, Bewegung, Text.
Auch was in einer Aufführung später genau fixiert sein muss, entsteht letztlich aus Improvisationen, denn man kann im Vorhinein nie wissen, was ein unkonventionelles Zusammenstoßen der verschiedenen Medien auslöst und wie es wirkt.
Heiner, was kannst Du zu deinem Signature Project „The Mayfield“ für die Monheim Triennale sagen? Und wie hat man sich die Genese von „The Mayfield“ vorzustellen?
„Mayfield ist der Name eines alten Bahnhofs-Depots in Manchester, in dem wir diese Performance geprobt und aufgeführt haben. Inzwischen ein hipper Hotspot für die City war das 2018 noch eine kalte, nasse und nicht nur durch Tauben total verdreckte Halle mit langem Nachhall – was alles großen Einfluss auf die Ästhetik der Musik hatte, die dort entstanden ist. Bis auf den sizilianischen Saxophonisten Gianni Gebbia, den ich seit den 90ern kenne und Willi Bopp, mit dem ich als Sounddesigner seit 1989 zusammenarbeite, habe ich die Musiker und Musikerinnen von The Mayfield für diese Performance erst gesucht und gefunden: Camille Emaille, eine phantastische, unglaublich differenziert improvisierende Schlagzeugerin und Perkussionistin; trotz oder gerade wegen ihrer klassischen Ausbildung, von der sie sich entfernt hat.
Cecile Lartigau spielt eines der ersten elektronischen Instrumente überhaupt, das Ondes Martenot, für das zum Beispiel Olivier Messiaen komponiert hat. In den großen Konzerthallen der Welt gilt sie für diese Musik als eine der wenigen virtuosen Solistinnen. Als Improvisatorin holt sie Klänge aus dem Instrument, die man so noch nicht gehört hat.
Nicolas Perrin ist nicht nur Gitarrist, sondern auch Instrumentenbauer und hat auf der von ihm entwickelten E-Gitarre einen derart körperlichen Zugriff auf die Samples und Fieldrecordings, dass mir dagegen mein eigenes Sampling in den 80er Jahren sehr armselig vorkommt.
Alle zusammen arbeiten wir an einer „elektroakustischen Musik“, in der die Veränderung der Klänge und der klassischen Zuschreibungen von Instrumenten eine große Rolle spielt. Gianni Gebbia hat zum Beispiel schon vor über dreißig Jahren das circular breathing – die permanente Atmung auf dem Saxophon virtuos entwickelt. Es geht uns sowohl um die Musikalisierung von Geräuschen wie auch umgekehrt darum, die technologischen Entwicklungen nicht in ein bestehendes musikalisches Konzept zu integrieren, sondern sie als Herausforderung für eine neue gemeinsame Ästhetik anzunehmen: Sich überraschen zu lassen.”
Als Überschrift zu diesen Beitrag hast du „Signature / No Signature” vorgeschlagen, was man auf zweierlei Arten lesen kannst: Als sympathische Betonung des kollektiven Charakters des Projekts – und somit als Negation einer singulären Künstlerpersona. Und zudem auch als künstlerische Absage gegen den einen, sofort erkenntlichen Signature Sound. Sagen dir diese Lesarten zu und möchtest du noch etwas ergänzen?
„Ja, so meinte ich es. Es war zwar meine Initiative, diese Musiker und Musikerinnen zusammenzubringen, aber das musikalische Resultat ist kollektiv, nicht vorhersehbar und das Verhältnis der vielen Stimmen darin unhierarchisch. Hier gibt es kein Solo, keine Begleitung, es entstehen Miniaturen oder Klanglandschaften, die aber nichts illustrieren oder beschreiben wollen, sondern nur auf sich selbst verweisen und auf die Imagination beim Hören.”
Das Projekt ist für dich sehr zentral mit den beteiligten Personen verbunden. Was sich erstmal als Allgemeinplatz anhört, meint, dass es nur mit diesen Musiker:innen so umgesetzt werden könnte, richtig?
„Ja. Es kann auch nicht nachgespielt werden. Nicht einmal von uns.”
Was können wir für die Umsetzung bei der Monheim Triennale visuell erwarten? Wird es ein spezielles Bühnenbild geben?
„Nein. Es ist ein Konzert. Die Besetzung hat sich zwar für eine bildstarke Performance mit vielen Tänzern zusammengefunden und bis zum Sommer haben wir noch einige Aufführungen, aber bei diesen bin ich der Regisseur und könnte gar nicht mitspielen. Und wir freuen uns, wenn die Konzentration in Monheim ganz auf der Musik liegt. Wer „Everything That Happened And Would Happen“ noch sehen möchte, müsste vorher Ende Juni zur ‚Grand Halle de la Villette‘ nach Paris kommen.”
Auch wenn es platt klingt, so kommt es doch von Herzen: Wir dürfen gespannt auf die Performances von Heiner Goebbels bei der Monheim Triennale 2025.
Die Schlussworte aber gehören natürlich Heiner Goebbels, der zum Ende unseres ersten Gesprächs nochmals auf die Ausgangsfrage nach dem zurückkommt, was ihn an Kunst fasziniert:
„Mich interessiert Musik oder eine Performance oder ein Bild oder ein Text dann, wenn es kein Zentrum gibt, in dem Bedeutung festgeschrieben wird. Das ist auch etwas, was ich versuche, in meinen Arbeiten zu realisieren. Selbst wenn meine Arbeiten ein Thema haben, geht es eher darum, es zu umstellen und eben nicht zu besetzen, damit ein Zentrum für die Zuschauerinnen und Zuschauer nur individuell durch ihre eigene Wahrnehmung entsteht – und nicht über ein gesetztes Thema. Es geht mir immer um Vielfalt von Bedeutungen. Sowohl bei Musik als auch bei performativen Arbeiten. Es sollte immer mindestens so viele Bedeutungen wie Zuschauer geben können – wenn Bedeutung nicht auf der Bühne festgezurrt wird.”