

Wege maximalen Widerstands
Es ist schwer, Anushka Chkheidze in diesen Tagen Anfang 2025 zu erreichen. Im Sommer 2024 saßen wir noch am Rande des Berliner Festivals Pop-Kultur zusammen, wo die georgische Musikerin, angereist aus ihrer Wahlheimat Utrecht, ein abendliches Live-Set spielte. Ihr eindrückliches, bereits viertes Album ist da noch ganz frisch. Auf „Clean Clear White‟ präsentiert sich die 1997 geborene Musikerin als experimentelle Erkunderin von Raumklang. Aufgenommen hat sie es im Frühjahr 2021, mit Klavier, Laptop, mit viel Fingerspitzengefühl bei der Mikrofonierung der pandemiebedingt leerstehenden Räume des Biozentrums der Universität Basel und einem Vokalensemble der renommierten Schule für Alte Musik Schola Cantorum Basiliensis. Ein Album, das unterstreicht, was die Szene seit Jahren flüstert: dass da ein ganz großes Talent dabei ist, ins Licht der internationalen Avantgarde zu treten.
Georgischer Albtraum
Jetzt, im Winter 2024/25, wirken diese Überlegungen wie Eindrücke aus einer anderen Welt. Mittlerweile bestimmt politischer Widerstand die Welt von Anushka Chkheidze. Heute beispielsweise wieder eine große Demo der Kultur in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens. Menschen aus Theater und Musik sind seit Monaten im Streik gegen den autoritären, anti-westlichen Kurs der Regierungspartei Georgischer Traum, die im Herbst in mutmaßlich gefälschten Wahlen eine absolute Mehrheit errungen und seitdem den massiven Widerstand der Zivilgesellschaft mit Gewalt und willfähriger Rechtsprechung zu brechen sucht. Auch wenn kleinere Kulturinstitutionen den Streik nicht mehr stemmen können und erste Bars und Clubs wieder offen sind, gibt es noch immer täglich Proteste.
Anushka Chkheidze ist zum Weihnachtsfest in ihr Heimatland im Kaukasus geflogen und hat die Proteste seitdem fast schicksalhaft zum Lebensinhalt gemacht. Zumindest, solange es Terminplan und Geld zulassen. In der Metro von Protest zu Protest: vor dem Gerichtshof in Solidarität mit der hungerstreikenden Journalistin Mzia Amaghlobeli zur Demo vor dem öffentlichen Fernsehsender, der längst zur Propagandamaschine geworden ist, zur Mahnwache vor dem Parlament, das in den Augen der Protestierenden nicht mehr die demokratischen Verhältnisse repräsentiert. Dazwischen Anrufe, Planungsgespräche für Projekte in Mitteleuropa, in Deutschland oder den Niederlanden, die von hier so weit weg erscheinen, wie ihr im Sommer noch der Protestwinter.

„Ich habe damit gerechnet, dass es intensiv werden würde, aber ich war zu optimistisch. Ich dachte, dass mehr und mehr Menschen realisiert hätten, wer diese Partei ist, dass sie sich weiter Russland annähern und deren autoritäre Gesetzgebung übernehmen würde. Alle kannten das Regime. Ich dachte, wir müssten nur geduldig sein bis zu den Wahlen, denn sie würden nie eine Mehrheit bekommen‟, sagt sie nun, als ich sie über Zoom erschöpft in Tiflis erreiche, um mir Updates zu ihrem Signature Project für die Monheim Triennale 2025 geben zu lassen. Sie habe sich schuldig gefühlt, so lange im Ausland geblieben zu sein und über den Bildschirm verfolgen zu müssen, wie ihre Freund:innen von der Polizei verprügelt werden. Natürlich habe sie jetzt Angst, sagt sie. Aber: „Es gibt keinen anderen Weg.‟
In Imeretien
Ihr Engagement für die Proteste ist vielleicht auch dem Einfluss geschuldet, den das Land auf sie als Mensch wie als Künstlerin hat, über den wir in diesem weit entfernten Berliner Sommer sprachen. Und deshalb muss man, wenn man verstehen will, wie der Anushka-
Es dauert immer noch an, aber die Musik hat mir so viel Freiheit gegeben“, -Sound, dieses beglückend dichte Immer-etwas-zu-viel, dieses Flirren, das zu bewegt zum statischen Zuhören und zu schwebend zur tanzenden Ekstase scheint, entstanden ist, einmal Berlin und Utrecht hinter sich lassen und selbst Tiflis, die Heimat ihrer Eltern. Der Blick wandert dann entlang des Chkherimela-Flusses in die Region Imeretien in eine Kleinstadt zwischen Hoch- und Mittelgebirge: Kharagauli.
„Ende der Neunziger war die Situation in Georgien eine ganz andere. Es herrschte kein Bürgerkrieg, aber es gab Unruhen, keine Infrastruktur, viel Korruption. Alles war nur für die Reichen. Deshalb beschlossen meine Eltern, dass mein Bruder, meine Schwester und ich in die kleine Stadt zu unserer Großmutter umziehen sollten.“ Statt postsowjetischer Brutalismus-Tristesse in der Hauptstadt kann die junge Anushka in ihrer Kindheit bei den Großeltern die Natur kennenlernen. Und aus heutiger Perspektive vor allem ausnutzen, dass es in der örtlichen Schule kostenlose Kurse für Kinder gibt. Sie stürzt sich wissbegierig auf alles: Musik, Tanz, Literatur.
Vor allem Tanz hat es ihr besonders angetan. „Ich liebe es zu tanzen, aber nicht mit Leuten. Ich dachte immer, ich würde Tänzerin werden! In einer Kleinstadt gibt es immer etwas, das man sich wünscht, das aber einfach nicht da ist. Zum Beispiel ein Schwimmbad. Oder Street-Dance-Kurse. Also habe ich zu Hause meine eigene Tanzgruppe gegründet, weil wir einen wirklich großen Hof hatten. Ich habe aufgelegt und Tracks für uns gemixt – Musik aus dem Radio oder von meinen Freunden. Manchmal war es furchtbare elektronische Musik. Aber ich liebte deadmau5“, berichtet sie.‟, berichtet sie.
Damit ist schon ein Steinchen im Mosaik des Chkheidze-Sounds gesetzt, vielleicht das offensichtlichste. Denn auch wenn seitdem viele experimentelle Knöpfchen gedreht wurden im Klangkosmos, vor allem auf ihrem tollen Debüt Halfie von 2020 ist das ganz klar IDM, Intelligent Dance Music im Geiste eines Aphex Twin. Nicht umsonst zählt To Rococo Rots Robert Lippok zu ihren regelmäßigen künstlerischen Partnern.
Aber auch das Instrument, auf dem noch heute das Fundament vieler Tracks gelegt wird, lernt sie in diesen Kleinstadt-Jahren kennen. „Als ich drei Jahre alt war, entschied meine Großmutter: Dieses Mädchen liebt das Klavier. Also ging ich vor dem Schulunterricht zum Klavierunterricht. Und es gefiel mir. Aber ich hasste Noten und Partituren. Ich wollte einfach nur Lieder spielen. Meine erste Erfahrung machte ich, als mein Großvater mir ein kurzes Stück beibrachte – ein georgisches Lied namens ‚Country‘. Ich war ein glückliches Kind.“
Polyphon abstrakt
Das führt relativ direkt zu einem dritten Element, das zentral für den Sound von Anushka Chkheidze ist, auch wenn es sich nur mehr erahnen als unmittelbar heraushören lässt. Denn, Frage an Anushka Chkheidze: Was ist eigentlich ein typisch georgischer Sound? – Antwort: „Vielleicht einfach Mehrstimmigkeit!
„Als ich elf Jahre alt war, fing ich an, in einem Chor zu singen. Unser Chorleiter war superlustig. Es war unglaublich wichtig für meine Kindheit, all diese verschiedenen Harmonien in Kirchenmusik und Volksliedern zu lernen. Ich will nicht sagen, dass wir die beste Chormusik der Welt haben, aber sie ist wahrhaftig mehrstimmig. Man singt nie einfach nur die Melodie. Man muss immer auf jemanden warten. Man sucht mit den Augen, wer mit einem zusammen singen wird. Mehrstimmigkeit ist mehr als nur eine Hauptstimme. Das ist bis heute etwas ganz Besonderes für mich. Wenn mich jede andere Musik langweilt, finde ich im georgischen Volksmusikarchiv immer etwas Interessantes.“
Natürlich übersetzt sich die Liebe zur georgischen Polyphonie nicht eins zu eins in jene Electro-Folklore, wie sie vor zwei Jahrzehnten in Shantels „Disco Partizani‟ ihren Ausdruck fand, irgendwie exotisch nomadisierend zwischen Post-Sowjet- und Balkan-Romantik, Beats und Bläsern, auch nicht die diversen Latin-Varianten à la Rosalía finden ihre Entsprechung in Chkheidze-Sound. Ach was, Anushka schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, nicht mein globaler Dauertrend! „Viele Leute machen es auf die falsche Art und Weise. Es ist furchtbar. Deshalb spürt man es in meiner Musik nicht wirklich – ich versuche, es zu vermeiden. Ich nehme nicht einfach irgendeine Folklore, die mir gefällt, und lege ein paar Beats darunter. Das wäre der einfachste Weg zu sagen: Schaut her, ich bin mit Folklore verbunden!“
Und Wege des geringsten Widerstands sind, das zeigt sich ja auch in ihrer Beteiligung an den Protesten gegen den neuen georgischen Autoritarismus, nicht ihr Ding. Und so steckt der Einfluss der georgischen traditionellen Chormusik eher in den Strukturen als in den Texturen des Sounds. Keine Selbstexotisierung durch Klang, sondern: maximale Abstraktion. „Es geht mehr um die Methode, mehr darum, wie ich komponiere. Ich hatte keine klassische Ausbildung im eigentlichen Sinne. Ja, ich hatte Klavierunterricht, aber nicht bei den virtuosesten Lehrern. Also musste ich selbst herausfinden, wie man eine Komposition aufbaut. Die Art, wie ich Instrumente einsetze, wie ich einen Bass-Sound gestalte, wie ein Stück beginnt und endet – all das ist eng mit der Folklore verbunden“, erklärt die Musikerin – Instrumente, die gegeneinander laufen. Atonale erste Stimmen. Der Bass, der die Melodie trägt, statt nur den Groove zu liefern; und der die Leitstimme wird, wenn alle anderen Instrumente verstummen. „Ich bekomme oft das Feedback, dass meine Musik tanzbar ist – aber sie ist eigentlich nicht wirklich tanzbar, nur kann man dabei einfach nicht sitzen bleiben.“

Am Rand der Komfortzone
Warum sie sich dennoch für die Niederlande als Basis entschieden hat? Durchaus weil die Lage in Georgien auch vor der Hinwendung zum Autoritären im Herbst kaum Planungssicherheit für das Potenzial einer jungen Künstlerin bot. „Würde ich dort Musik machen, könnte ich damit Geld verdienen?‟, fragtt sie. In Utrecht fand sie allerdings viele Vorteile einer kleinen Stadt wieder, die sie in Tiflis, wo ihre Karriere dann Fahrt aufnahm, vermisste. Etwa, dass sie alles mit dem Fahrrad erreichen kann, statt in die U-Bahn zu steigen. Reisen, sagt sie, muss sie ja ohnehin genug, mit ihrem Job. Und auch für ihren Wissensdurst gibt es in Georgien zu wenige Orte. Zwar konnte sie dort etwa unter der Klangkünstlerin Natalia Beridze studieren, aber für ihren Master zog es sie dann an das wesentlich spezialisiertere Institut für Musik und Technologie an der Utrechter Hogeschool voor de Kunsten.
Auch für ihr Signature-Projekt bei der kommenden Monheim Triennale bleibt sie stets am Rande ihrer Komfortzone. Im Sommer berichtete sie noch, die Arbeit mit Chören wäre für sie gerade besonders interessant, weil sie es mittlerweile satt habe, immer alleine auf der Bühne zu stehen und es genießt, zu hören, wie andere ihre Ideen klanglich umsetzten. Damals hatte sie gerade erst das umjubelte Eröffnungskonzert des Haldern Pop Festival am Niederrhein gespielt, bei dem sie den Gesang des Berliner Chor Cantus Domus in der Dorfkirche komplex mit minimalistischen Synthieteppichen verwob. Aber nun erklärt sie im Winter eine fast radikale Kehrtwende zum Solistischen. Wenn der Kontext auch sakral bleibt: Bei der Monheim Triennale 2025 wird Anushka Chkheidze das Projekt Intricate Pipes präsentieren – das erste Orgelwerk der Künstlerin.
Orgel von außen
Anders als Chöre sind Orgeln für Chkheidze kein Heimspiel. Die georgische Polyphonie der Kirchenmusik kennt keine Entsprechung im Instrumentalen. „Ich war immer ein großer Fan von Orgeln, aber mehr rein äußerlich. Meine Wurzeln liegen in der orthodoxen Kirche, und da verwendet man keine Orgeln. Für mich war es immer etwas, das mit der Kirche verbunden ist“, sagt sie. „Mit der Orgel zu arbeiten ist ein Traumprojekt, aber ich habe auch Angst davor.“
Küchenpsychologisch könnte man nun vielleicht argumentieren, dass die Schwere der Situation in Georgien, die allgemeinen Endkampf-Vibes der Proteste, eines noch gravitätischeren Klangs bedarf. Aber vielleicht ist es auch einfach so, dass Anushka Chkheidze im November bei einer Artist Residency die Orgel der St.-Antonius-Kirche in Düsseldorf-Oberkassel kennenlernte. Ein Klangkörper, der immer wieder Komponist:innen Neuer Musik und auch der elektronischen Avantgarde inspirierte. So hat zum Beispiel der französische Komponist Maxime Denuc, der an der Schnittstelle von Barock und Rave arbeitet, Stücke für die Orgel von St. Antonius geschrieben, auch der deutsche Komponist und Träger des Förderpreises 2012 des Ernst von Siemens Musikpreis Ulrich Kreppein.
Dahinter steht mit Markus Hinz ein engagierter Kirchenmusiker und Komponist, der vor einem guten Jahrzehnt den Umbau der Orgel zu einem Klangkörper für Orgelmusik der Gegenwart begleitete und seitdem immer wieder Musiker:innen einlädt, die Möglichkeiten des Instruments auszuloten. Die Orgel verfügt über eine MIDI-Verbindung – die es erlaubt, digitalen Synthieklang und analoge Akustik ineinandergleiten zu lassen. Diese Verwischung und die Arbeit mit Hinz inspirierte auch Anushka Chkheidze zu ihrem Signature-Projekt. „Intricate Pipes handelt davon, wie ein elektronischer Musikkomponist eine echte Orgel nutzen könnte‟, fasst sie die Idee jetzt zusammen.
Minimalismus, kompliziert
Dabei bricht das Projekt ein wenig aus dem Rahmen aus, der für die Monheim Triennale gesetzt scheint. „Für mich war immer die Frage: Was wird das Signature-Projekt, mit wem möchte ich zusammenarbeiten? Dann dachte ich, dass ich kein Konzert mit meinem berühmten Lieblingskünstler machen möchte. Weil ich es vorziehe, das Instrument auszuprobieren, das ich immer schon ausprobieren wollte, und jetzt ist der Moment gekommen. Und ich hatte das Gefühl, dass dies der Moment ist, aus meiner Komfortzone in der elektronischen Musik herauszutreten.“
Denn Chkheidze beobachtete – wer soll das denn jetzt nachvollziehen können, aber gut – bei sich zuletzt angeblich eine gewisse Trägheit: „In letzter Zeit wollte ich immer Kollaborationen machen, anstatt mich auf die technischen Details meines Live-Sets oder meiner Ausrüstung zu konzentrieren. Wie finde ich den Moment, mich als Live-Performer weiterzuentwickeln?“ Dieser Moment scheint jetzt gekommen.
Die MIDI-Connection der Orgel ist auch hier der Ansatzpunkt. Chkheidze programmiert ihr Werk in Ableton, schaltet ihren Laptop mit der Orgel zusammen und steuert so den Sound des Instruments aus ihrer digitalen Expertise heraus. Zusätzlich kann sie allerdings die Manuale und das Pedal der Orgel auch händisch spielen. Der Sound dürfte dabei erkennbar Chkheidze bleiben. Das garantiert nicht zuletzt das „intricate‟ im Titel: kompliziert. Denn auch wenn die Dichte ihrer Musik sich mit den Eigenschaften des Instruments nicht abbilden lässt, soll es kein klassischer Orgel-Minimalismus werden. Das ist genau die Balance, um die sie ringt. „Es wird minimalistischer. Denn für mich ist es so, dass ich ständig so viele Dinge in die Tracks einbaue, wie ein sich ständig veränderndes Rhythmusmuster oder verschiedene Harmonien – ich mag es nie, wenn es aufhört. Es ist komplex. Deshalb nenne ich dieses Projekt Intricate Pipes – es wird immer noch komplex sein, aber nur mit einem einzigen Instrument.“
Wie allerdings lässt sich der Sound einer so spezifischen Orgel wie der von St. Antonius in Düsseldorf in einen anderen Kontext übertragen? Ist es doch gerade eines der Alleinstellungsmerkmale einer Orgel, dass alle, die das Instrument hören möchten, sich zu ihm bewegen müssen, statt dass es dahin geht, wo das Publikum wartet? Die Orgel in Monheim wird jedenfalls über keinen MIDI-Anschluss verfügen. Daher experimentiert Chkheidze gerade in alle Richtungen, etwa mit technischen Robotermechaniken, umgenutzten Stimmgeräten, die auf das Manual aufgesetzt werden und die dann selbstständig Tasten anspielen können – auch das Neuland für die Künstlerin.
„Ich war ein schüchternes Kind und habe das Imposter-Syndrom. Das ist auch jetzt noch so, aber die Musik hat mir so viel Freiheit gegeben‟, erzählte mir Anushka Chkheidze an jenem heißen Augustnachmittag beim Pop-Kultur-Festival. Das muss man jetzt vielleicht ein bisschen ergänzen. Vor allem nämlich, das zeigt sich in ihrer gegenwärtigen Beharrlichkeit bei den Protesten in Georgien genauso wie in dem kommenden Projekt zur Triennale: eine außerordentlich große Portion Mut.