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Marcus Schmickler

Monheim Papers Fluß, Flow und Übergang von Lars Fleischmann
Marcus Schmickler

„Nomadischer Rundfunk“ ist ein Nabelwerk des Komponisten Marcus Schmickler. Hinter dem Begriff Nabelwerk verbergen sich musikalische oder filmische Werke, die häufig ausschließlich innerhalb eines Oeuvres auf sich selbst verweisen, zugleich aber auch als Blaupause (und Lektüreschlüssel) für andere Arbeiten herhalten. Im Falle von „Nomadischer Rundfunk“ sieht das folgendermaßen aus: Für die Konzertinszenierung setzte sich Schmickler 2004, drei Jahre nach der damals kontrovers diskutierten Schließung des legendären WDR-Studios für elektronische Musik und zum Geburtstag dessen ehemaligen Leiters Karlheinz Stockhausen, auf die Stufen des Funkhauses des in Köln-ansässigen Senders und spielte ein Konzert über einen lokalen FM-Radio-Transmitter. Das Publikum, das vorher gebeten wurde, seine eigenen tragbaren Radios mitzubringen, wurde so gleichzeitig zum Empfänger und Sender der Information. Es hörte die Schallwellen der anderen Radios und verbreitete gleichzeitig den Sound weiter.

Das Konzert als Protestform und Zitat von ebensolchen subversiven Erscheinungsweisen schließt an die musikalische Tradition der (unter anderem Kölner) Komponistinnen und Komponisten an, die Mitte des letzten Jahrhunderts die Musik umkrempelten, vom Kopf auf die Beine stellten und die Verpflichtungen der Moderne umsetzten. Der technische Fortschritt drückte sich im Werk der elektroakustischen Musikerinnen und Musiker aus; ob sie nun Daphne Oram, Karlheinz Stockhausen oder Iannis Xenakis hießen. Ihr Arbeitsplatz war plötzlich auch das moderne Studio mit seinen technischen Mitteln aus Filtern, Modulationsinstrumenten und synthetischen Tonerzeugern – wie eben jenes Studio für elektronische Musik des WDR. Gleichzeitig ist die Arbeit Schmicklers nicht nur eine aktivistische Intervention, sondern auch ein eigenständiges Konzert, das sich nicht über zwei Boxentürme, sondern über die mitgebrachten Radios spatialisierte. Das Medium öffentlich-rechtlichen Rundfunk, das sich in erster Linie und im Gegensatz zum Konzert über Lautsprecher und im privaten Raum realisiert, schwingt für Schmickler als hermeneutische Ebene mit.

Sender und Empfänger – die musikalische Welt des 1968 in Köln geborenen Musikers und Komponisten Marcus Schmickler ist stets von solchen janusköpfigen Gespannen beheimatet; von Für und Wider, von dialektischen Annäherungen, von Kippfiguren: Es gesellen sich derlei verschränkte Paare wie nah und fern, hoch und tief, spontan und geplant, laut und leise, komponiert und improvisiert, digital und analog dazu. Vektoren, die auch für seine „Entwurf einer Rheinlandschaft“ betitelte Arbeit im Zuge der Monheim Triennale eine Rolle spielen.

Could You Patent the Sun?“

Einen ersten Eindruck von „Entwurf einer Rheinlandschaft“ gab es bereits 2020 bei der 20-minütigen Klang-Inszenierung „Could You Patent the Sun?“, die in Zeiten von Corona (und der abschwellenden ersten Welle) als Vorab-Version an Ort und Stelle entstand, respektive gespielt wurde. Hier nahm Marcus Schmickler Bezug auf den berühmten Ausspruch des Erfinders des Polio-Impfstoffes, der – anders als heutige Chemie- und Medizinunternehmer – das lebensrettende Vakzin nicht patentieren ließ und damit in der ganzen Welt einfach und billig verfügbar machte. Die Performerinnen und Performer waren damals die Monheim Triennale-Künstlerin Jennifer Walshe (Vocals), die Blechbläser des Ensemble Musikfabrik und die koreanischen Cellistin Okkyung Lee – deren Stimme, fremde Codes zitierend, aus ihrem damaligen Corona Lockdown in Seoul mittels eines LRAD Lautsprechers akustisch an den Rhein übertragen wurde. LRAD (Long Range Acoustic Devices) wiederum sind Lautsprecher, die von Sicherheitsbehörden zur “crowd control”, etwa bei Protesten zum G8- und G20-Gipfel in Toronto gegen Demonstrierende eingesetzt wurden.


In der Vorab-Version, die Marcus Schmickler später nochmals mit dem Ensemble Musikfabrik aufgenommen hat, spielt ein Quartett auf Blechblasinstrumenten mit Doppeltrichter, die zwischen zwei verschiedenen Klangfarben umgeschaltet werden können. Diese detaillierte Kontrolle der Klangmöglichkeiten akustischer Instrumente wird begleitet und verstärkt von Schmicklers Elektronik, die die dronenden Bläsersätze auf- und auch vorwegnimmt – die Bläser prallen bildlich gesprochen auf die elektronischen Sounds. Dazwischen drängen sich die Klänge der Vokalistin, die als entfremdete sprachliche Äußerungen gedeutet werden können. Diese Preview mit 20 Minuten Länge stellte einen Vorgeschmack auf die abendfüllende Konzert-Inszenierung dar:
Einige Aspekte werden sich auch am 22. Juni 2022 wiederfinden lassen, wenn dann endlich „Entwurf einer Rheinlandschaft“ aufgeführt werden kann.

Marcus Schmickler
Marcus Schmickler © Frederike Wetzels für Monheim Triennale

„Entwurf einer Rheinlandschaft“ steht wie viele Arbeiten (vor allen Dingen in den letzten Jahren) von Marcus Schmickler in der Tradition der Elektroakustik und der Computermusik, die unter anderem in Köln geprägt wurde. Schmicklers Faszination für diese Praxis und dem musikalischen Ansatz ist in seiner Kindheit angelegt: „Mich hat das als Kind extrem beeindruckt in einem Steinbruch zu stehen und schräge Musik zu hören“, erzählt er die Geschichte seines Erstkontakts mit der Musik von Karlheinz Stockhausen, der damals eine Komposition im Steinbruch von Kürten realisierte.
Nachdem Schmickler als Jugendlicher in Bands gespielt und mehrere Instrumente gelernt hatte, merkte er schnell, dass er seine Sprache „nicht an einem elektrisch-verstärkten Instrument ausbilden kann, die Möglichkeiten waren zu begrenzt. Das Studio als Instrument kristallisierte sich als die eigentliche Form des Musikmachens für mich heraus.“ Verstärkt wurde das Interesse und auch die eigenen Ambitionen noch zu Schulzeiten, als er auf einen Freundeskreis stieß, der sich mit elektroakustischer und Neuer Musik auseinandersetzte. Aus diesem Zusammenschluss sollte a-musik werden, der bedeutende Vertrieb und Plattenladen, Label und allgemeiner Ort für tiefere Auseinandersetzung mit Sound und Musik als Kunst im Herzen von Köln.

Schmicklers eigenes Studio liegt heutzutage in der Kölner Innenstadt, versteckt in einer Nebenstraße des Ursulaviertels. Im „Piethopraxis Tonstudio“ schrieb und schreibt er zahlreiche Stücke der Computermusik, für Orchester, Ensembles und Chöre; dort erarbeitet er die Sounds seiner Multi-Kanal-Arbeiten, -Installationen und Konzert-Inszenierungen.
Seit etwa 15 Jahren komponiert Schmickler mit Sonifikation, der Übertragung von wissenschaftlichen Daten und Modellen in Klang. Die Ergebnisse sind immer ästhetisch reizvoll und doch konzeptionell fordernd. Beispielsweise in der Verklanglichung astronomischer Daten bei “Bonner Durchmusterung” oder der akustischen Vermessung von Zahlenklassen der modernen Mathematik in “Politiken der Frequenz”.
„Mir war immer wichtig, mich mit dem zu beschäftigen, was mich gerade besonders interessierte – ohne darauf achten zu müssen, wie sich das ins bigger picture einfügt“, erzählt Schmickler als es darum geht, dass seine Projekte und Inszenierungen vielgestaltig und mannigfach sind. Dennoch verbindet sie alle das schillerndes Spiel mit und die Überwindung von Gegensätzen und verschränkten Paaren.

Marcus Schmickler
Marcus Schmickler © Frederike Wetzels für Monheim Triennale

Monheim Triennale 2022: Eine akustische Vermessung

Marcus Schmicklers Komposition für die Monheim Triennale „Entwurf einer Rheinlandschaft“ lebt von dialektischen Aufhebungen, einer Überwindung des Widerspruchs durch die Musik, ein sowohl als auch, indem die jeweils positiven Elemente der Gegensätze eine Synthese eingehen. Mit dieser Konzert-Inszenierung nimmt er Bezug zu den großen Mythen Mitteleuropas und weltweiten Finanztransaktionen. Gleichzeitig inszeniert er in situ, ganz konkret an Ort und Stelle: Am Rhein, in Monheim und seiner Promenade, am gegenüberliegenden Ufer. Das Spannungsverhältnis aus lokal und global wird offensichtlich.
Der Aufbau von „Entwurf einer Rheinlandschaft“ ist indes komplex, kann aber runter gebrochen werden: Es handelt sich um eine akustische Vermessung und Analyse der weitflächigen Bedingungen am Rheinbogen. Ein Teil der Musikerinnen und Musiker wird das Konzert von zwei Booten aus auf dem Rhein performen, ein Ü-60-Sprechchor aus Foucaults “Heterotopien" zitieren, dazu kommen Elektronik, zwei Blechblas-Quartette, die Heldenbaritonistin Lucia Lucas sowie die Stimmkünstlerinnen Stine Janvin und Janneke van der Putten.
Vor allen Dingen das Verhältnis von nah und fern steht im Fokus der Arbeit: Wie entwickeln sich Sounds verschiedener Genese (Blasinstrumente, Gesang, synthetische Sounds, etc.) über Distanz – und welche Formen der Übertragung gibt es eigentlich? Welche Probleme können auftreten bei der Übertragung über weite Wege? Diese Fragen haben Marcus Schmickler zwischenzeitlich sogar zu Königspinguinen geführt, für die es „Studien gibt über deren Kommunikationsverhalten und die benötigten Windverhältnisse bei der Kommunikation über große Distanzen.“
Die außerordentlichen Verhältnisse am Rhein in Monheim ermöglichen es dieser Fragestellung nachzugehen und auch die Differenz zwischen hör- und sichtbar auszuloten. Dazu gesellen sich exomusikalische Narrative: Die Geschichte des Rheingold und die Nibelungensaga, genauso wie die Tatsache, dass Carl Leverkus seine Chemieunternehmungen an den oberen Niederrhein verlegte, weil er dort den Schatz der Nibelungen vermutete – und wie in Folge Leverkusen, Dormagen und eben auch Monheim zu einem weltweiten Zentrum der Färberei, der (Petro-)Chemie und der Medikamentenproduktion wurden.
Der Ort gebe hier einige Konstanten vor, so Schmickler, die Referenzräume öffnen, zu denen dann die jeweils eigene Distanz beziehungsweise Nähe ausgelotet werden könne. Das gelte gleichermaßen für Richard Wagners „Ring“-Zyklus, der am Rhein national-mythisch manifestiert ist, wie auch die Aktualisierung durch Elfriede Jelinek.
Tatsächlich schimmert der Rhein bei Sonnenuntergang oft derart von seiner romantischen Seite, dass man darin Gold vermuten könnte – nicht unpassend, vergegenwärtigt man sich seine Rolle in der Geschichte Mitteleuropas als „Liminal-Struktur“ und geografischer Grenze.

Die original Idee zu „Entwurf einer Rheinlandschaft“ hat sich übrigens seit 2020 und der Preview „Could You Patent the Sun?“ verändert: „Die Welt ist nicht stehen geblieben und einiges in der Zwischenzeit passiert. Wenn man sich die Lage in der Ukraine und die kriegerischen Auseinandersetzungen anschaut, dann bekommen Prädikate wie nah und fern eine neue Bedeutung.“ Nähe und Distanz, genauso wie der Rhein als Grenzfluss, der „überschritten“ werden muss – all das hätte betont Marcus Schmickler mittlerweile eine andere Konnotation als noch vor wenigen Wochen und sei weiter zu bedenken.

„Entwurf einer Rheinlandschaft“ wird gefördert von:

Künstlerseite Marcus Schmickler