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Ingrid Laubrock

Monheim Papers Die Traumtänzerin von Ariana Zustra
Ingrid Laubrock

Es ist körperlich, lautmalerisch, ja, innig, wenn Ingrid Laubrock die Beziehung zu ihrem Instrument, dem Saxophon, beschreibt. „Mir gefällt die sprachliche Komponente des Saxophons. Es ist so nah am Sprechen oder Singen. Und dann die Tatsache, dass man hinein atmet. Ich liebe, dass man so viele Möglichkeiten für Ausdruck hat“, sagt die Jazzmusikerin.

Als Jugendliche fand die heute 51-jährige Musikerin, das Instrument sieht zunächst einmal sehr cool aus. Sie hing damals mit Leuten rum, die Jazz mochten. Durch sie entdeckte sie etwa „Kind of Blue“ von Miles Davis. Dank ihres Onkels stieß sie bereits als Kind auf Klassiker des Genres und hörte sie auf dem Plattenspieler rauf und runter, etwa den Jazz-Saxophonisten Cannonball Adderley (der auch auf „Kind of Blue“ zu hören ist). „Es war wie ein Erweckungserlebnis“, erzählt sie.

Laubrock wurde 1970 in Stadtlohn geboren, einem Nest im Münsterland an der Grenze zu den Niederlanden, vor allem aber einem Ort, aus dem sie weg wollte, so schnell es ging. Nach dem Abitur zog sie mit 18 nach London, einfach weil sie Lust hatte, dort zu leben. Sie hatte seit ihrem achten Lebensjahr Klavierstunden bekommen und sang ab dem elften in Chören – in der englischen Metropole begann sie Saxophon zu spielen. Sie blieb zwanzig Jahre. „Ich liebte das Leben in London und all die verschiedenen Szenen, in die ich eingetaucht bin. Ich habe versucht, so viel wie möglich zu lernen. Ich habe dort auch so viele Freunde und Erinnerungen, an die ich oft denke – London wird immer ein besonderer Ort für mich sein“, erzählt sie. In dieser Zeit entwickelte sich Laubrock zu einer der erfindungsreichsten Improvisatoren und Komponisten in der Jazz-Szene. Immer wieder wird ihre Gabe hervorgehoben, dem Saxophon eine eigene Stimme zu verleihen, es sprechen zu lassen, ja, mehr noch: es lebendig zu machen. Der SWR bescheinigte ihr „eine ganz eigenständige und unverwechselbare Stimme“, „die sich flexibel den verschiedensten Kontexten anzupassen vermag“. Beachtlich, dass sie Autodidaktin ist – sie hatte in ihrem Leben nur ein Jahr Saxophonunterricht.

Bemerkenswert, dass da Preise und Würdigungen nicht lange auf sich warten ließen: Laubrock erhielt bereits den „BBC Jazz Award for Innovation“ sowie den Jazzpreis des SWR mit der Jurybegründung, in ihr finde der deutsche Jazz „eine seiner kreativsten und eigenwilligsten Künstlerinnen“. Die New York Times rühmte ihr mit dem eos chamber orchestra eingespieltes Album „Contemporary Chaos Practices“ als eines der 25 besten Klassikstücke des Jahres 2018.

Ingrid Laubrock
Ingrid Laubrock © Janette Beckmann für Monheim Triennale

Mit ihrer Kreativität und Experimentierfreude ist Laubrock wie gemacht für das Programm und die Ausrichtung der Monheim Triennale. Denn Jazz-Festivals gibt es zahlreiche in Deutschland, vor allem im Umkreis der Rheinstadt, aber keines hat einen so radikal unradikalen Ansatz, eine vollkommen luftdurchlässige Offenheit für Stile, Genres, Spielweisen. Wenn Laubrock an das Prequel im Sommer 2021 denkt, gerät sie ins Schwärmen: „Niemand in Monheim ist aus der klassischen Jazz-Szene oder spielt konventionelle Sachen. Es geht wirklich um den Austausch“, sagt sie. Dass inmitten der Pandemie eine Workshop-Version des Festivals stattfinden konnte, als Vorgeschmack und Vorfreude auf den großen, offiziellen Launch in 2022, beschreibt sie als „magisch“: „Es war wie eine Insel zu der Zeit“, sagt sie. Insel passt als Bild übrigens sehr gut: Das Festival findet auf einem Schiff statt. Hauptspielstätte ist die „MS Rheingalaxie“, die eigens am Monheimer Schiffanleger festmachen wird. Ganz recht: I’m on a boat!

Im Prequel im Juli 2021 performte Laubrock unter dem Motto „Escalator over the Hill“, dem Titel der epochalen Jazz-Oper von Carla Bley, die Free Jazz, Rock, Weltmusik und so ziemlich jeden populären Musikstil der Siebziger meisterhaft bündelte. In Monheim verdichtete sich dies zu einem fulminanten Miteinander von starken Solisten: der norwegische Experimental-Gitarrist Stian Westerhus in einem Sound-Stelldichein mit dem kanadischen Jazzmusiker Colin Stetson am Altsaxophon, der dann zum Bass-Saxophon greift, als Laubrock mit tänzelnden Sopran-Saxophon-Läufen die Szene betritt.

Eine ähnlich irisierende Show dürfte uns diesen Juni auf der Monheim Triennale erwarten: Gemeinsam mit der Laptop-Impro-Wundertüte Sam Pluta, dem Jazz-Schlagzeuger Tom Rainey, dem Kontrabassisten Robert Landfermann, dem Pianisten Cory Smythe und dem progressiven eos chamber orchestra wird Laubrock ihr Stück „Dream Twice“ aus ihrem Ende 2020 veröffentlichten Album „Dreamt Twice, Twice Dreamt“ live vorstellen. Das Konzept dieses Werkes ist betörend: Zehn Jahre lang führte Laubrock ein Traumtagebuch, wo sie die, wie sie sagt, „verrücktesten“ nächtlichen Erlebnisse festhielt. Für die Arbeit an diesem Album blätterte sie in den Einträgen der vergangenen zehn Jahre und entschied sich intuitiv für fünf, die als Grundlage für Kompositionen dienen sollen. „Träume waren immer schon Futter für Komponisten, weil sie eine andere Tür aufmachen“, sagt Laubrock. „Bevor ich angefangen habe, die Musik zu schreiben, habe ich mich in die Träume hinein meditiert, um sie erneut zu erleben. Daher auch der Titel des Albums“, erzählt sie. Und auch, weil sie die Stücke erst komponiert hat als Versionen für ein Trio aus Saxophon, Keyboard und Elektronik, und dann in einem zweiten Schritt neu konzipiert hat für ein ganzes Orchester. Diese sind nicht einfach Arrangements der kleinen Kompositionen, sondern neue, ganz eigenständige Stücke, die nur lose auf den anderen basieren. „Ich zoomte oft auf Details und erzeugte daraus einen großen Teil für eines der Orchesterstücke. Die Musik war ein wenig wie russische Matrjoschka-Puppen, die in verschiedenen Formaten aufeinander aufbauen, oder wie eine Landkarte in einer Landkarte, in der man im Kleinen immer neue Wege im großen Ganzen entdeckt“, erklärt sie den Schreibprozess, der bei ihr nicht selten inspiriert wird von Wanderungen in der Natur. Dafür fährt sie gern raus aus Brooklyn, wo sie seit 13 Jahren lebt.

Der Ansatz, Träume als Grundlage für Kompositionen zu nehmen, ist symbolisch für Laubrocks generelle Herangehensweise an Musik: sich aus Strukturen, aus allzu Bewusstem, Kontrolliertem zu lösen, und vielmehr Unerwartetes zuzulassen, unterbewusste Impulse als Stimuli zu verwenden, neue Wege einzuschlagen. Diese Freiheit, diesen Fluss hört man der Virtuosität des Albums an. Der Musikwissenschaftler Wolfgang Gratzer etwa schrieb in der Zeitschrift Jazz Podium, man bekomme es mit „Unvorhergehörtem“ zu tun. und ferner: „Diese quirlige Musik funktioniert nicht nach bewährter Rezeptur, sie bewährt sich in frappierenden Verläufen. Wiederholtes Hören lohnt in diesem Fall besonders, zumal sich der Fundus an aufwühlenden Klang- und Geräuschdetails als reichhaltig erweist.“

Allein die Liedtitel machen Lust, in diese Sound-Séancen einzutauchen: „Snorkel Cows“ ist die musikalische Interpretation eines Traumes, in dem sich Laubrock in einem Bauernhaus auf dem Land wiederfand mit einem riesigen Becken, in dem Kühe umherschwammen und mit ihren Nüstern immer wieder an die Wasseroberfläche trieben, um atmen zu können. „I Never Liked That Guy“ hingegen versetzt uns mitten in die Wildnis Nordamerikas in eine Szene aus einem Westernfilm. In dem Traum erschießt einer ihrer Bekannten einen anderen, pustet wie ein Cowboy den Rauch von der Pistole weg und brummt diesen Satz: „Ich konnte den Typen eh nie leiden.“ Laubrock lacht über diese nächtliche Grille: „Ich wachte auf und wunderte mich, weil dieser Traum für mich überhaupt keinen Sinn ergab. Wir sind alles Kollegen und die Person, die erschossen wurde, ist der netteste Mensch, den man sich vorstellen kann!“

Ingrid Laubrock
Ingrid Laubrock © Janette Beckmann für Monheim Triennale

Ihren Einfallsreichtum und ihre Versiertheit lebt Laubrock auch in diversen Bands, Ensembles und Projekten aus: Bei „Ingrid Laubrock’s Anti-House“ spielen einige ihrer liebsten Musiker*innen aus der New Yorker Kreativszene mit, etwa Mary Halvorson, John Hébert oder Tom Rainey, mit dem sie verheiratet ist. Ihr Ehemann ist auch in anderen Formationen ein wichtiger Kollaborationspartner, wie etwa im Ingrid Laubrock/Tom Rainey Duo, in Ingrid Laubrock’s „Sleepthief“ oder in „Perch, Hen Brock & Rain“. Mit „Ingrid Laubrock's Ubatuba“ hat sie sich den Traum erfüllt, in einer reinen Blechblas-Formation zu spielen.

Laubrock ist ihrer Nische ein Star. Schwer zu glauben, oder richtiger: schwer zu ertragen daher, dass auch sie im Laufe ihrer Karriere mit Sexismus konfrontiert war. „Als ich 18 oder 19 war, musste ich nicht mal einen Ton spielen und manche Leute sind schon davon ausgegangen, dass ich nicht spielen kann. Sie denken, du hättest nicht genug Kraft. Lustigerweise sind das die Leute, die gar keine Ahnung haben, wie viel Kraft und wie viel Atem man tatsächlich braucht. Da gibt es viele Vorurteile“, erzählt sie. Aber erfreulicherweise ändere sich das laut ihrer Einschätzung nach und nach. „Zum Glück gibt es mittlerweile mehr weibliche Saxophonisten. Aber sobald man etwas anderes spielt als, sagen wir, Flöte, Geige oder Klavier, hat man immer noch mit Klischees zu kämpfen. Die muss man aufbrechen! Und das werden sie – von großartigen Musikerinnen.“

Laubrock kann den Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen kaum erwarten – sowohl auf der Monheim Triennale als auch auf weiteren geplanten Auftritten. Denn als eine Kreative, für die der unmittelbare, pulsierende Austausch mit anderen Künstlerinnen und Künstlern der Herzschlag ihrer Musik ist, litt sie unter der Isolation der Pandemie. „Es war verrückt: Ich hatte auf einmal kein Bedürfnis zu komponieren. Da kam einfach nichts! Ein ganzes Jahr lang. Dabei schreibe ich normalerweise immer, wenn ich nicht toure. Aber die Tatsache, dass ich nicht wusste, für wen oder was ich schreiben soll, weil ich ja auch nicht wusste, wann ich wieder in einem Raum mit Menschen sein darf, mit denen ich die Musik zusammen umsetzen kann, hat mir die Inspiration genommen“, erzählt sie. Wenn man Laubrock live sieht, die Energie, den Groove, kann man sich vorstellen, wie sehr ihr diese Momente der Verbundenheit gefehlt haben müssen, die, wie sie sagt, telepathisch sein können. Deswegen kamen für sie digitale Alternativen auch nicht infrage. „Damit wollte ich gar nicht erst anfangen: Allein in meinem Kämmerchen etwas aufzunehmen und es dann jemandem per Mail zu schicken und der spielt dann auch allein etwas drüber und schickt es mir als Overdub zurück – so funktioniert es für mich nicht“, sagt sie. Um sich beschäftigt zu halten, nahm sie mit ihrem Mann jede Woche Sessions auf und lud sie auf Bandcamp hoch, die nun zu einem Dokument der Pandemie geworden sind. Aber die Vitalität eines Konzerts konnte das natürlich nicht ersetzen. Umso erleichterter ist sie, dass eine hautnahe Synergie wieder möglich ist. Und auch die Muse hat sie wieder geküsst: Seit einer Weile fließen die Melodien nur so aus ihr heraus, als bräche sich all die zurückgehaltene Musik nun ihren Damm. „Ich schreibe wieder nonstop, es fühlt sich toll an!“, sagt sie und strahlt. „Dreamt Twice, Twice Dreamt“ mag aus Träumen bestehen – aber diese im Juni 2022 endlich live auf der Bühne der Monheim Triennale erleben zu können, darf sich zum Glück Realität nennen.

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