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Colin Stetson

Monheim Papers „Wenn ich meinen Atem so deutlich höre, wie stelle ich es dann an, dass du das spürst und meinen Atem hörst?“ Thomas Venker

Während The Prequel, unserem Pre-Festival zur Monheim Triennale 2022, haben wir Gespräche mit Musikern wie Hibo Elmi, Phillip Sollmann, Shahzad Ismaily, Ava Mendoza und dem Monheim Triennale Direktor Reiner Michalke geführt.

Hier unser Gespräch mit Colin Stetson:

Thomas Venker (Monheim Papers): Colin, was war dein letzter Auftritt, bevor du nach Monheim gekommen bist?

Colin Stetson: Shahzad Ismaily und ich haben eine Band zusammen, The Ex Eye. Ich glaube, der letzte Gig, den wir gespielt haben, war in Brooklyn. Oder?

Shahzad bestätigt vom hinteren Teil des Raumes.

Colin Stetson: Im Februar 2020, im Saint Vitus, einer kleinen Bühne in Brooklyn. Es hat super viel Spaß gemacht.  Wir waren damit fertig, und ich hatte dieses seltene – nun ja, im Nachhinein betrachtet, genau perfekt getimte – Urlaubsgefühl. Ich fuhr für über eine Woche runter nach Mexiko und dann rauf nach Los Angeles. Dann hatte ich eine Woche lang Meetings in LA – und das genau in der Woche, in der alle sich fragten: „Ist das ein Ding?“ Alle waren noch überall unterwegs, gingen aus Essen und gingen zur Arbeit, aber sie fingen an, alle Oberflächen abzuwischen. Und damit fing es an, ich erinnere mich, wie die Sprühflaschen auftauchten. Und alles wurde abgewischt – es war die Woche des Abwischens. Zwei Tage bevor uns alles um die Ohren flog war ich zurück in Montreal.

Thomas Venker: Also hast du seit 15 Monaten nicht mehr gespielt?

Colin Stetson: Nein, nicht vor einem Publikum. Nein.

Thomas Venker: Ich frage mich, wie fühlt sich das an für jemanden, für den die Bühne eine so große Bedeutung hat? Auf der Bühne präsentiert du dem Publikum nicht nur deine Musik, sondern deine Art des Saxofonspielens erfordert intensiven Körpereinsatz. Etwas dann so lange nicht zu machen ist sicherlich ein Problem, vom Körpertraining her betrachtet.

Colin Stetson: Ich habe 15 Monate lang nicht auf einer Bühne gestanden, hatte aber in den letzten 15 Monaten so viel zu tun, das es für einen Burn-out gereicht hätte. Es gab echt nonstop Arbeit. Ich habe Material für zweieinhalb TV-Staffeln und zwei Spielfilme komponiert – und ich habe zwei eigene Platten aufgenommen und ein bisschen an einer dritten gearbeitet.
 Die ganze Arbeit besteht aus Aufnehmen und Üben: Für das Adult Swim Festival habe ich im November 2020 einen kleinen live – aber doch nicht ganz live – voraufgezeichneten Gig fürs Internet gemacht.

Die Sache mit der Körperlichkeit, in der ich mich befinde, ist, dass ich das überhaupt nicht anhalten kann. Also geht es jeden Tag um Instandhaltung, vom ersten Aufwachen an. Ich beginne den Tag mit Atemübungen, um sicherzugehen, dass sich meine Lunge noch ausdehnt, und dann wärme ich mich an den Instrumenten auf, mache ein paar Grundübungen, um sicherzugehen, dass ich fit bin. Jeden Tag nehme ich mir ein paar Stunden Zeit, um sicherzugehen, dass ich in Bezug auf Ausdauer und Beweglichkeit usw. nicht abbaue. Denn sobald ich anfange, abzubauen, braucht es ein bisschen mehr, um es wieder aufzubauen.

Thomas Venker: Darauf zielte meine Frage ab: Du kannst deine Maschine nicht anhalten...

Colin Stetson: Ich habe das früher mal gemacht, vor Jahren, und das war wirklich grenzwertig gefährlich und außerdem so frustrierend und unerträglich einschränkend. Es fühlt sich für mich an wie der Kontrast zwischen der Fähigkeit, die ganze Welt der Gefühle anzuzapfen, und dann nach einem Reset überhaupt nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Ehrlich gesagt, finde ich das beängstigend, es bringt mich voll aus dem Tritt.

Thomas Venker: Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie viel Disziplin man braucht, um das durchzuhalten. Vor allem unter den ziemlich deprimierenden Umständen einer Pandemie.

Colin Stetson: Wenn man unter Depressionen leidet, ist es viel, viel einfacher, sich ein Ritual oder eine Routine zur Instandhaltung aufzuerlegen – denn man weiß, dass es viel, viel schlimmer ist, wenn man das nicht tut.
Ich vermisse aber das, was wir in den letzten Tagen hier in Monheim erleben konnten. Es geht vor allem um den Sinn dahinter: mit alten Freunden zusammen zu sein und neue Freunde kennenzulernen … Wenn wir zusammen sind, haben wir ein gemeinsames Erlebnis, das für jeden etwas sehr Einzigartiges ist. Es ist der Blitzableiter, bei dem wir alle einen Weg herausfinden und voneinander lernen. Was ich am meisten vermisse, ist das Zusammensein mit anderen Musikern und mit meinen liebsten Freunden ... Ich habe gestern Abend ein paar Mal weinen müssen. (lacht auf)
 
Ich erinnere mich an diesen einen Moment, es muss im Jahre 2010 gewesen sein: Ich spielte im Vorprogramm von Arcade Fire. Wir spielten an der US-Westküste und in Mexiko, und an diesem Abend spielten wir in einem Fußballstadion in Mexiko-Stadt. Ich spielte also Solo-Saxofon in einem Fußballstadion vor 18.000 Leuten – und die fucking Lautstärke, dieser Sound war einfach berauschend, es fühlte sich an wie pure Power. Ich liebe dieses Gefühl. Dieses Gefühl hat man nicht, wenn man allein bei sich in seinem Zimmer sitzt und jeden Tag spielt. Aber ich finde es auch toll, die Geräte wieder anzuschließen, die Lautstärke aufzudrehen und dieses Gefühl wieder zu spüren.

© Colin Stetson. Richmond Lam für Monheim Triennale

Thomas Venker: Colin, bist du ein Beobachter, während du spielst? Versuchst du, Augenkontakt mit deinem Publikum herzustellen?

Colin Stetson: Nein!

Thomas Venker: Alles klar. Ich frage das nach deiner Geschichte im Stadion, weil ich mich frage, wie sich das für dich angefühlt haben muss.

Colin Stetson: Auf der Bühne im Stadion, das war eine schräge Sache – und ich habe das mit verschiedenen Gruppen erlebt, wenn wir vor wirklich großem Publikum gespielt haben, aber nie so wie an diesem speziellen Abend mit Arcade Fire, wo es so groß war, dass man definitiv kein Gesicht sehen konnte –, weil es einfach dunkel ist, aber auch weil man so weit weg ist von allen. Man nimmt nur eine gewisse Geräuschkulisse wahr, das Gemurmel, Atmen, Reden, die Geräusche der vielen Menschen. Ich habe diese Art von Atmosphäre weder vorher noch nachher je wieder erlebt.
Aber um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Nein, ich schaue das Publikum nicht an, ich schaue wirklich nichts an, meine Augen sind geschlossen. Vor allem weil ich es schon immer als irritierend empfunden habe, wenn man jemandem beim Spielen eines Horns zusieht und dieser die Augen offen hat. Ich meditiere viel, und das Ziel beim Spielen ist, vor allem bei den Solosets – das gelingt mir nicht immer und hängt davon ab, wie präsent ich zu einem gegebenen Augenblick sein kann – mich wie bei einer Mindfulness-Meditation zu fühlen. Das Ziel ist dann, einfach nur anwesend zu sein und meine Sinne unmittelbar wahrzunehmen.
Mein Ziel bei Solosets ist es, einfach nur im Sound anwesend zu sein. Wenn es gut klappt, denke ich an nichts. Wenn ich meine Solosets spiele, spiele ich meine Songs tausend Mal, und das mache ich schon seit Jahrzehnten – also denke ich nicht darüber nach, was ich als Nächstes mache oder was meine Finger gleich tun werden. Wenn alles gut läuft, sollte ich den schmerzhaften Teil des Erlebnisses nicht spüren, ich sollte nicht wahrnehmen, was meine Gliedmaßen tun. Ich bin dann nur eine Art wirbelnder Punkt im Raum.

Thomas Venker: Wie fühlt sich das an, wenn du mit anderen Musikern auf der Bühne stehst? So wie gestern, als es kein festgelegtes Set gab, sondern ihr alle zusammen improvisiert habt. Reagierst du in solchen Momenten auf die Texturen und Sounds der anderen oder bringst du eher deinen eigenen Stil ein?

Colin Stetson: Das hängt wirklich von der jeweiligen Situation ab. In einer Situation wie gestern Abend versuche ich, einfach mitzumachen – manchmal ist das schwierig, wenn man nicht hört, ob man laut genug spielt. Ich versuche, meine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was den geilsten Sound ergibt und lasse mich dann einfach gehen.
 Aber wenn ich dann mit einem Singer-Songwriter oder einer Band spiele, ist das eine ganz andere Art der Begleitung, meine Rolle ist dann eine ganz andere...
Natürlich gibt es Zeiten, in denen alles wie am Schnürchen läuft, und es gibt andere, in denen es Hürden zu überwinden gibt.

Thomas Venker: Bist du immer zufrieden mit den musikalischen Parts, die du zu anderen Projekten beiträgst, oder sind manche eher ein wirtschaftlicher Kompromiss?

Colin Stetson: Im Moment mache ich gar nichts mehr mit jemand anderem zusammen. Ich gehe nicht mehr auf Tour für die Projekte von anderen. Ich nehme immer noch mit anderen Leuten auf, aber nur in Bandkonstellationen wie das erwähnte Ex Eye mit Shahzad. Die Zeit reicht kaum aus, um all die Projekte zu machen, die ich gerne machen möchte.

© Colin Stetson. Richmond Lam für Monheim Triennale

Frage aus dem Publikum: Ich frage mich, aus welchen Gründen hast du dich bereit erklärt, in einer so kleinen Stadt wie Monheim zu spielen?

Colin Stetson: Reiner Michalke hat mir von der Stadt und der Festivalidee erzählt. Anhand seiner Beschreibung wusste ich, dass es genau so werden würde wie es jetzt ist. Als er die Leute vorschlug und die Hälfte davon meine besten Freunde waren, musste ich nicht lang darüber nachdenken.
Reiner war der erste, der mich in Europa gebucht hatte. Das war vielleicht im Jahr 2009. Reiner hat mich damals gesehen, wie ich mit Sam und Shahzad ein paar Shows gespielt habe, und danach hat er mich gefragt, ob ich auf dem Moers Festival spielen wolle. Ich kenne ihn schon lange und er war wirklich mein erster Champion in Europa und der Grund, warum ich eine wirklich gute und langjährige Tournee-Karriere in Europa und all diesen Ländern habe.
 Und jetzt, nachdem ich so lange nicht gespielt hatte, war das Einzige, was für mich zählte: Können wir endlich wieder zusammenspielen? Werden wir ein Publikum haben? Werde ich vorher noch geimpft, sodass ich mir in dieser Hinsicht keine Sorgen machen muss?
Außerdem: Reisebeschränkungen – ich bin seit Februar 2020 nirgendwo anders gewesen als bei mir zu Hause. Also, ja, da habe ich nicht lange überlegen müssen.

Publikum: Ist dein Baritonsaxofon auf der Bühne mit einem Mikrofon verkabelt?

Colin Stetson: Ja, ich spiele mit Mikrofonen am Instrument, nur Clips, ich spiele nicht in Standmikros, alle sind an den Instrumenten selbst befestigt. Gestern Abend hatte ich noch ein paar zusätzliche Mikrofone, um meinen Gesang einzufangen, und mehrere Mikrofone am Korpus des Instruments selbst für die perkussive Art des Spielens. Die Frage ist immer: Wie bringe ich den Klang des Instruments rüber, wenn ich solo spiele? Bei meiner letzten Soloaufnahme habe ich 18 verschiedene Mikrofone am Instrument eingesetzt, die aussehen wie dieser Draht, der vom Instrument herunterhängt. 

Frage aus dem Publikum: Aber das sind alles natürliche Klänge?

Colin Stetson: Nein, das war früher in meiner Karriere der Fall. Damals habe ich noch akustische Sets gespielt – nicht immer, aber manchmal. Als ich damit anfing, waren alle meine Sets akustisch, und als ich allmählich anfing, in Clubs zu spielen, habe ich Mikrofone und so eingesetzt.  Mein größtes Problem dabei war – vor allem bei Aufnahmen –, dass man Mikrofone nicht direkt vor dem Horn einsetzen konnte, weil man so nur einen ganz bestimmten Schnappschuss davon bekam, wie das Horn klingt, und dann wurde nur dieses Element verstärkt.
Das stimmte überhaupt nicht überein mit meiner Wahrnehmung und meinem Erlebnis von dessen, was das Instrument machte und dem, was ich damit ausdrücken wollte. Also fragte ich mich:
„Ok, wenn ich diese Art von Perkussion höre, wenn ich dieses Perkussionselement in meinem Schädel durch meine Zähne spüre, wie lasse ich den Zuhörer das in seinem Schädel und seinen Zähnen spüren?“
„Wenn ich meinen Atem auf diese Weise höre, wie bringe ich den Zuhörer dazu, das zu spüren und meinen Atem zu hören?“
Live sind die Mikros ein wenig abgespeckter als im Aufnahmestudio, wo ich alles machen kann.

Frage aus dem Publikum: Wie viele Spuren verwendest du im Studio für die Aufnahmen? Nimmst du jedes Mikrofon einzeln auf und mischst hinterher dann alles ab?

Colin Stetson: Ja, jedes Mikrofon hat seine eigene Spur – und das war's dann auch. Ich mache keine Overdubs, zumindest nicht bei den Solosachen, es gibt nur dieses eine Take. So kann ich die verschiedenen Sounds isoliert aufnehmen – und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, sie zu manipulieren, zu komprimieren, zu verstärken und andere Effekte.
Bei den Aufnahmen geht es mir nicht darum, eine bestimmte akustische Erfahrung des Sounds in einem Raum zu reproduzieren, sondern darum, eine Art surrealistischen Ausdruck dessen zu schaffen, was passiert.
Das hat vor 15 Jahren ganz bescheiden angefangen, und jetzt ist der Punkt erreicht, dass ich etwas Akustisches schreibe, aber ich plane und überlege genau, wie die verschiedenen Teile des Instruments klingen werden, wenn ich sie auf eine bestimmte Art und Weise einfange. Manchmal schreibe ich für einem Prozess, den ich noch nicht entwickelt habe, und frage mich, ob ich X erreichen kann, wenn ich etwas auf eine bestimmte Weise mit dem Mikrofon mache. Mal probieren – und dann dauert es manchmal ganz schön lange, weil ich nicht nur die richtige Stelle mit dem richtigen Mikrofon finden muss, sondern auch den richtigen Vorverstärker und den genau richtigen Equalizer. Aber wenn ich das perfekt hinbekomme, dann ist das etwas, das ich festhalte und für immer benutze.

Shahzad Ismaily: Ich schätze das Gefühl sehr, dass Colin sowohl Wissenschaftler als auch Musiker ist. Wenn man ihn über die Prozesse im Studio sprechen hört, hat man das Gefühl, dass es hier wissenschaftlich zugeht wie in einem Labor: Testen und Experimentieren und Sampling, wie eine Theorie, über die man auf eine bestimmte Weise denkt und die sich dann in eine andere Weise verändert.
Ich frage mich, ob es jemals Fiktionalisierung oder visuelle Kunstinstallationen in Museen gab, bei denen man einen Raum betreten würde und von Lautsprechern umgeben wäre und die perkussiven Klicks in einem Stereofeld hört. Das ist gerade eine große Bewegung in der Musik, besonders in den aktuellen VR-Setups, und deshalb bin ich neugierig, was du davon hältst?

Colin Stetson: Die gesamte nächste Platte wird in einem wirklich großen Raum aufgenommen, in mehreren Räumen, und die Art und Weise, wie wir mit der Lautstärke und dem Aufbau der Instrumente umgehen…
In Berlin gibt es eine 4D-Sound-Situation im Funkhaus, das ist eine weitere Sache, die im Jahr 2020 geplant war: Live-Performances, bei denen wir alles planen, sodass das gesamte Erlebnis kuratiert ist und nicht einfach nur willkürlich mit etwas herumgespielt wird. Wir schreiben es tatsächlich in jedes Musikstück hinein, es gibt ein ganz bestimmtes geografisches Mapping, wie ich spiele. Ich kann gar nicht genug kriegen vom Scripting.

Thomas Venker: Guter Hinweis. Die 4D-Performances, die ich im Funkhaus besucht habe, waren nämlich eher von der willkürlichen Art. Sie klangen zwar noch immer gut, aber weit unter dem Potenzial des Raumes und des Soundsystemes.
Nur Pan Daijing hat mich künstlerisch im Raum überzeugt, indem sie eine gespenstische Atmosphäre einer realen Umgebung geschaffen hat.

Colin Stetson: Ich denke, dass wir als Musiker und Musikerinnen und alle anderen, die irgendeine Art von Performance zeigen, letztlich versuchen, die Wahrnehmung und das Erlebnis unserer Mitmenschen zu beeinflussen. Und zwar mit Absicht, hoffe ich, und nicht einfach in einen Raum gehen und irgendeinen Mist machen und sich dann fragen, was die Leute davon halten werden.
An Live-Auftritten mag ich am liebsten, dass man sich eine Geschichte ausdenken kann – ein psychologischer Erzählstoff mit Emotionen – auf der persönlichen menschlichen Ebene. Man überträgt diese Geschichte in ein Medium, das man – mit einer bestimmten Absicht – an jemand anderen weitergibt; und dann kann man sehen, was dieses Medium selbst durch das Erlebnis bewahrt hat. Wenn wir es richtig angehen, ist die Erhaltung dieser Absicht ziemlich (wenn auch nicht immer) korrekt, denke ich. Und das, was wir sind – wir haben Gehirne, die uns von Natur aus von allen anderen Menschen isolieren – gibt uns die Fähigkeit zu kommunizieren. Aber unsere Kommunikation ist allgemeiner Natur, und so versuchen wir ständig, von der Geburt bis zum Tod, uns Gesellschaft zu suchen. Deshalb suchen wir nach Liebe, deshalb suchen wir nach Akzeptanz, und wir versuchen in gewisser Weise, diese Einsamkeit zu durchbrechen. Es ist die Unmöglichkeit, ein Gehirn und einen Schädel zu haben und niemand kann jemals hinein und da kann auch keiner heraus.
Aber mit all den verschiedenen Methoden, die wir im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, können wir zumindest versuchen, in diesem Sinne zusammenzukommen und anderen zu zeigen, wie wir die Dinge erleben. Das ist meine Erfahrung, so fühle ich mich.

© Colin Stetson. Richmond Lam für Monheim Triennale

Thomas Venker: Abgesehen davon: Was bedeutet das für die Art und Weise, wie du deinen Erzählstoff bei Auftritten mit anderen Musikern hier in Monheim vermittelst?

Colin Stetson: Ehrlich gesagt, was meine Art des Komponierens betrifft:

Die Essenz des Konzepts für den Round-Robin war gegeben, aber was die eigentliche Musik anging, war es (zumindest für mich) ein Ausdruck all dieser brillanten Persönlichkeiten und ihrer Gefühle, die 15 Monate lang voreinander verborgen geblieben waren. Sie alle erstrahlen und zum Vorschein kommen zu sehen, war wie ein lebendiger Blick in die Seele von jedem Einzelnen für diese kurzen, kleinen Momente; wie weit aufgedrehte Glühbirnen; oder wie wenn man das Filament super gesättigt leuchten sieht und dann ganz plötzlich das Licht erstrahlt...
In den letzten 15 Monaten hatte ich immer ein bisschen die Scheuklappen auf, sodass ich nicht unbedingt wusste, dass ich diese Momente schmerzlich vermisste – auch weil ich im Alltag immer etwas zu tun hatte, denn es gab immer etwas zu tun.

Frage aus dem Publikum: Ich war beeindruckt von den Sounds gestern Abend – aber ich habe fast keine Leere oder keine Stille gehört.

Colin Stetson: Klar! Nach 15 Monaten gibt es keine Stille.

Gelächter im Raum

Colin Stetson: Es findet keine Reflexion statt. Es ist einfach ein: Ahhhhhhh. Aber ja, das lässt sich auf jeden Fall feststellen.

Was mich angeht, so fühlten sich die 14 Minuten im Round-Robin wie ein Wimpernschlag an – und in normalen Zeiten habe ich immer ...

Vor langer, langer Zeit, vor zwanzig Jahren oder so, habe ich einen Tag mit Roscoe Mitchell verbracht. Eines der Dinge, die er am meisten betonte, war, wie wichtig es ist, eine innere Uhr zu haben und die Zeit zu verstehen. Denn man kann nicht hoffen, die Zeitwahrnehmung anderer zu manipulieren, wenn man das Verstreichen der Zeit selbst nicht verstehen kann. Und deshalb war das die ganzen Jahre über eines meiner Hauptziele als Musiker.

Das kommt und geht, je nach Spannungsgrad oder persönlicher Verbundenheit mit der Musik. Es gibt Momente, in denen ich das einhalten kann, in denen ich genau weiß, wie viel Zeit mir für einen Auftritt bleibt, und ich kann eine Setlist auf die Minute genau planen und sie so spielen. Wenn ich z.B. auf einem Festival bin, weiß ich genau, dass ich Zeit für x Lieder habe, je nachdem, wie ich sie spiele, zwischen acht und zwanzig Minuten.

Aber auf eine schöne Art lag mein Tempogefühl gestern Abend völlig daneben. Greg Fox und ich spielten und ich hatte vor, etwa zwei Drittel auf dem Altsaxofon und dann das letzte Drittel auf dem Basssaxofon zu spielen, aber als ich zum ersten Mal auf die Uhr schaute – waren die Zeit schon komplett um.

Thomas Venker

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